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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis
Autoren: Irene Nemirovsky
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kraftlos.
    Sie wußte, was kommen würde. Aber diesmal wollte sie sich nicht wehren … Ein Kuß in dieser Nacht, war das denn mehr als eine Zigarette, ein Stück Obst, ein Schluck frischen Wassers, der vom Durst ablenkt, ohne ihn jedoch zu löschen? Wie ein Echo stieg die Erinnerung an die Worte ihrer Mutter in ihr auf; sie hatte sie nie vergessen, und heimlich waren sie auf ihrem kühnen Weg vorangeschritten: »… einen Freund … keinen Geliebten. Einen Freund … und dann fand sie immer mehr Gefallen daran …«
    »Laß mich«, wiederholte sie, bevor er irgend etwas getan hatte.
    Dann kam der Kuß.
    Sie rief: »Nein« und drehte den Kopf hin und her. Doch die jungen, gierigen Lippen fanden ihren Mund, und Jean-Pauls erstickte Stimme murmelte:
    »Ich liebe dich, ich liebe dich so sehr, wenn du wüßtest …«
    Und dann:
    »Und du?«
    »Nein«, sagte sie.
    Ein kurzes Schweigen. Dann:
    »Das macht nichts.«
    Sie hörte es, ohne es zu verstehen. Er küßte sie lange und sanft auf den Mund, kostete sie vorsichtig wie eine unbekannte Frucht.
    Sie hatten nicht bemerkt, daß weitere Autos gekommen waren, die in ihrer Nähe hielten; zweifellos saßen überall Paare wie sie, die sich, unter dem Vorwand, den Nebel zu bestaunen, im Schutz der Nacht liebkosten. Aber ein Scherzbold hatte die Idee gehabt, den Strahl seines Scheinwerfers auf diese Autos zu richten, und man erkannte schemenhaft die miteinander verfließenden Umrisse der Liebenden. Der den Dunst durchdringende Scheinwerfer traf mit brutaler Wucht auch Denise und Jean-Paul; im blendenden Lichtschein schienen ihre aneinandergepreßten Gesichter weiß zu sein. Denise zog sich unvermittelt zurück, und ihr Hut fiel auf ihre Knie; gleichzeitig begann sie am ganzen Körper zu zittern: Es war ihr, als hätte sie ganz in der Nähe einen erstickten Schrei gehört. Doch schon entfernte sich der Strahl der Lampe, andere Autos traten aus dem Zwielicht hervor, und es waren wütende Frauenstimmen zu hören. Denise suchte das Dunkel ab, ohne etwas zu entdecken; das Taxi neben ihnen drehte plötzlich und schoß davon, worauf auch andere Wagen sich in Bewegung setzten und in verschiedene Richtungen verschwanden.
    ›Ich habe geträumt‹, dachte Denise.
    Das alles geschah so schnell, daß ihre Verwirrung sich rasch wieder legte. Noch einmal fuhren sie durch den Bois, und in einer anderen kleinen Straße küßte Jaja sie von neuem. Erst als seine Lippen jene kleine Stelle ihrer Wange berührten, wo sie Yves’ Mund so oft gespürt hatte, wehrte sie ihn instinktiv ab.
    »Nein, nicht da …«
    Er sah sie überrascht an. Sie sagte schroff:
    »Wir sollten zurückfahren.«
    Er gehorchte; er begriff, daß der Moment der Hingabe vorbei war.
    Kaum war sie wieder zu Hause, rief sie Marie.
    »Hat niemand angerufen?«
    »Doch, Madame«, erwiderte das Mädchen, »Monsieur Harteloup.«
    »Ist es lange her?«
    »Ja, es war gleich nachdem Madame das Haus verlassen hatte.«
    »Hat er nichts für mich hinterlassen?«
    »Nein, Madame. Er sagte, daß er morgen wieder anrufen werde.«
    »Gut. Danke, Marie.«
    Tatsächlich hatte Yves sie an diesem Abend nach dem Essen angerufen. Die Antwort des Mädchens – »Madame ist ausgegangen« – hatte ihn überrascht, ihn fast erzürnt. In den mehr als elf Monaten, solange ihr Verhältnis dauerte, hatte es dergleichen noch nie gegeben. Denise war immer dagewesen, immer erreichbar, war ihm jederzeit zu Gefallen. Er schämte sich der Verzweiflung, in die seine Enttäuschung ihn gestürzt hatte, konnte sie aber einfach nicht abschütteln. Während er in seiner Wohnung auf und ab lief, keimte immer wieder die Hoffnung in ihm auf, daß das Ganze nur ein Irrtum sei, daß sie ihn gleich anrufen werde. Aber nein. Es stimmte also. Sie war nicht da.
    › Aber wo zum Teufel kann sie sein? ‹ sagte er sich. › Ihr Mann ist doch noch nicht zurück … Wo ist sie? ‹
    Dann ermannte er sich und lächelte angestrengt.
    › So etwas … Arme kleine Denise … Ach, mein Gott, sie ist frei … Wenn sie sich jedesmal so anstellen würde, wenn ich ausgehe, ohne ihr Bescheid zu sagen, würde ich mich ganz schön ärgern … ‹
    Doch soviel er auch versuchte, auf diese Weise mit sich selbst zu sprechen – oder vielmehr, nach seiner Gewohnheit, mit Pierrot, der auf seinem Hintern saß und mit aufmerksamem Blick die um die Lampe kreisenden Fliegen verfolgte –, er beruhigte sich nicht. Er dachte an jenen Tag in Hendaye, als sie am Morgen weggefahren war und er auf der Suche
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