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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis
Autoren: Irene Nemirovsky
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standen, und beugte sich vor; Dunst umhüllte die Stadt zu ihren Füßen, doch der funkelnde Invalidendom und das zarte Skelett des Eiffelturms waren deutlich zu erkennen, und dumpfer Lärm stieg von unten zu ihr auf.
    Zusammen stiegen sie noch weiter hinauf. Die alten schwarzen Häuser in den schmalen Gassen strahlten Hitze aus; mit einem munteren Geräusch rannen kleine Bäche mit rollenden Kieseln über die abschüssigen Gehsteige. Hellbraune schmutzige Hunde schliefen sorglos mitten auf der Fahrbahn.
    »Hast du schon einmal solche Hunde gesehen?« fragte Jean-Paul; er zeigte auf einen von ihnen, der eine Mischung aus Dachshund, Spaniel und Dogge zu sein schien.
    »Auf einer Zeichnung von Poulbot.«
    »Das stimmt … und die Kinder sehen auch so aus«, sagte Jean-Paul, als er eine Gruppe kleiner Gören mit wehenden Schürzenbändern und in die Stirn gedrückten Schirmmützen sah, die vor ihnen davonrannten.
    An der Place du Tertre saßen Familien um die Holztische und tranken Grenadine. Jean-Paul und Denise setzten sich zu ihnen. Langsam wurde der Himmel blaß; ein vager Fliederduft hing in der Luft, wie auf dem Land. Ein weißgekleidetes Mädchen, ein Kommunionkind, kam vorbei; im schwindenden Sonnenlicht schien sein Kleid golden und rosafarben zu schimmern. Hinter ihm liefen zwei kleine, sehr feierlich dreinblickende Mädchen in himmelblauen Kleidern, die Papierblumen im Haar trugen und in der Hand grellrote Rosen. Als sie nicht mehr zu sehen waren, begannen die Glocken von Sacré-Cœur zu läuten.
    Jean-Paul hatte Schaumwein bestellt. Schweigend hob er nun das Glas, und nachdem er lange die goldenen Bläschen betrachtet hatte, die in der Flüssigkeit aufstiegen, trank er bedächtig. Denise fragte:
    »Es heißt, du kommst öfters hierher?«
    »Manchmal …«
    Als sie lächelte, sagte er in ernstem Ton:
    »Aber allein …«
    »Ach –«
    »Doch, auf diese Weise findet man Frieden … Ich setze mich ins Auto, steige die Treppe herauf und bleibe hier sitzen … Ich denke an nichts, ich bin glücklich …«
    Denise sah ihn überrascht an.
    Er fragte:
    »Warum wundert dich das?«
    »Du bist es, über den ich mich wundere. Ich dachte, du wärst immer unterwegs, immer in Bewegung …«
    »Man soll die Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen, meine Liebe …«
    Langsam leerte er sein Glas, steckte sich dann eine Zigarette an, lehnte sich zurück und schwieg. Denise war von diesem Schweigen fast enttäuscht; irgendwie hatte sie etwas anderes erwartet; doch Jaja rauchte weiter, gleichmütig und mit etwas spöttischer Miene. Denise goß sich Wein ein – er war leicht und frisch – und trank das Glas in einem Zug aus. Um sie herum leerte sich der Platz. Der wunderbare abendliche Frieden hüllte sie ein.
    »Es ist schön«, sagte Denise laut und mit halbgeschlossenen Augen. Der leichte Wind streichelte ihre Wangen; der Wein machte ihre Glieder schwer und kreiste in ihrem Kopf. Mit angedeutetem Lächeln wiederholte sie:
    »Es ist schön …«
    Und dann sagte sie unvermittelt, staunend:
    »Es geht mir besser … Unwillkürlich macht man sich sogar ein bißchen Sorgen, wenn man spürt, daß der Schmerz einer Wunde auf einmal nachläßt … Komisch, es geht mir wirklich besser …«
    Sie atmete vorsichtig, als hätte sie tatsächlich in ihrem Inneren eine Wunde; als wäre jenes harte, kugelartige Ding, das auf ihrer Brust gelastet hatte, geschmolzen; noch einmal holte sie tief Atem. Dann fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn und sagte leise:
    »Wie dumm … Ich glaube, ich bin ein bißchen betrunken …«
    »Ja, dieser elsässische Schaumwein ist tückisch, wie man hört«, bemerkte Jean-Paul.
    Indessen war Denise mit einiger Mühe aufgestanden.
    »Fahren wir zurück, Jaja, es ist spät …«
    Bereitwillig rief er die Kellnerin und zahlte. Doch auf der Treppe sagte er:
    »Laß uns Frédé noch guten Tag sagen …«
    Das alte kleine Haus des Lapin Agile am Hang schien wacklig und gebrechlich zu sein wie ein greisenhafter Bettler. Die Mauern waren von einer Schmutzschicht bedeckt.
    Ganz hinten im Garten, der mit dürrem Gesträuch bewachsen war wie der Garten einer Dorfwirtschaft, schlief der alte Frédé auf einer Bank. Eine zahme Elster pickte die vergessenen Kirschen aus einem Schnapsglas. Denise bat:
    »Lassen wir deinen Freund weiterschlafen … Er sieht so friedlich aus.«
    Sie waren stehengeblieben. Langsam, fast widerstrebend hielt die Dämmerung Einzug; über allen Dingen lag eine eigenartige Ruhe.
    »Das
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