Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis
Autoren: Irene Nemirovsky
Vom Netzwerk:
paar Stunden lang die Zeit vertrieben hatte? Hatte sie es nicht im Grunde ihm zuliebe getan, um jene übertriebene Liebe, von der sie besessen war und die sie zu ersticken drohte, ein wenig zu dämpfen? Ganz gewiß fühlte sie sich Yves gegenüber nicht schuldig. Doch sie versuchte gar nicht zu verstehen. Wenn man stirbt, fragt man nicht, warum. Es ist eben so.
    Sie ging weiter, immer weiter, ohne Müdigkeit zu verspüren; was sie spürte, war eine vage Erleichterung, weil sie allein war, weil niemand in ihrer Nähe war, vor dem sie heucheln, lügen, lächeln mußte.
    Sie ging an den Quais entlang. Von Zeit zu Zeit schloss sie ihre müden Augen, geblendet von den intensiven Sonnenreflexen auf der Oberfläche der Seine, und widerwillig sog sie den Kohlegeruch ein, der von den Ufern aufstieg. In einem Laden schrien Papageien; aus den offenen Türen der Bistros drangen Kühle und Dunkelheit, gemischt mit dem Gestank nach saurem Wein.
    Als plötzlich wie ein Duft eine unbestimmte Erinnerung in ihr aufstieg, blieb sie stehen und sah sich aufmerksam um. Jetzt fiel es ihr ein. Sie war schon einmal hier gewesen, mit Yves. Nur war es ein Winterabend gewesen, ein regnerischer Abend … Bauarbeiter mit nassen Gummiumhängen, die sich über einem Kohlebecken die Hände wärmten, hatten gelacht, als sie vorbeikamen: Sie hatten so friedlich gewirkt, wie sie aneinandergeschmiegt unter dem Regen vorbeispaziert waren … und die Lichter der Stadt hatten so heftig im Wind geflackert … Ach, wie gut sie sich daran erinnerte … Wie es oft geschieht, zog diese Erinnerung andere nach sich, wie Kinder, die sich an den Händen halten … Mit traumhafter Deutlichkeit sah sie Yves’ Gesicht vor sich; und sie sah noch mehr, noch tiefer, sah seinen Blick, sein Lächeln, die flüchtigen Schattierungen seiner Stimmungen und die Farblosigkeit seines Begehrens, seine Zornesausbrüche und die Phasen seiner Müdigkeit, die seltenen Anflüge von Zärtlichkeit, seine Launen und sein Schweigen.
    Und dann erinnerte sie sich staunend auch daran, daß sie unglücklich gewesen war. Sie begriff nicht mehr. Noch einmal ließ sie all diese Monate ihrer Liaison Revue passieren: Es hatte Monotonie gegeben, Überdruß, Beunruhigung, Traurigkeit … Arme Liebe, grau und trist wie ein Herbsttag … Wie kam es, daß sie ihr jetzt, im nachhinein, mit soviel bitterer Süße vor Augen trat? Und wieder rief sie sich mit verzweifeltem Eifer – wie ein Kranker, der weiß, daß er sterben wird, und sich, um sich zu trösten, die Schwächen und Leiden, das ganze Elend seines Lebens vor Augen führt – die schlimmen Stunden ihrer Liebe, die Ängste und Zweifel ins Gedächtnis … Es waren Bilder, die schwach und blaß waren wie Tote. Doch auf einmal war eine Erinnerung da, die sie nicht gerufen hatte, lebendig, überdeutlich: Yves’ Lächeln, das liebenswürdige, stets unvermutet erscheinende Lächeln, unschuldig und ernst, wie das eines Kindes, das plötzlich sein ganzes Gesicht erhellte und sich langsam auflöste, während in den Mundwinkeln ein Rest davon blieb wie ein zuckendes Licht. Sie sah es so nah vor sich, daß sie unwillkürlich die Arme danach ausstreckte, als könnte sie es berühren.
    »Das war es – das Glück!«
    Sie hatte es laut ausgerufen. Ein paar Männer, die gerade vorbeiliefen, blickten sie überrascht an. Sie schämte sich. Die erhobenen Hände senkten sich zu ihrem Mund, legten sich auf ihre Lippen, um ihr Weinen zu ersticken. Sie blieb stehen, plötzlich ernüchtert, tief getroffen und zu Tode erschöpft, und betrachtete mit stumpfen Augen die glitzernde Seine. Ein Taxi fuhr vorbei; der Fahrer bremste, als er sie sah. Mechanisch stieg sie ein und nannte ihm ihre Adresse.
    Das Auto fuhr los, leichte Stöße durchschüttelten sie auf dem unebenen Pflaster der alten Gassen. Sie weinte nicht. Sie litt nicht einmal mehr. Sie wiederholte nur immer wieder wie ein kleines Mädchen angesichts einer Sache, die es nicht versteht:
    »So ist es also … es ist zu Ende … und ich habe nicht gewußt, daß ich glücklich gewesen bin … Und jetzt ist es zu Ende …«
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher