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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
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allein in der leeren Wohnung zu bleiben überstieg ihre Kräfte. Sie rief verschiedene Freunde an, doch keiner war in der Stadt. Und plötzlich dachte sie an das Gespräch, das sie vor einiger Zeit mit ihrer Mutter geführt hatte. Sie hörte sich sagen: »Das Vernünftigste wäre, wenn ich Yves betrügen würde … Diese Liebe, die ihm die Luft zum Atmen nimmt, wie Sie sagen – wenn ich sie auf zwei Männer verteilte, hätte sie genau das richtige Maß.«
    Sie stand mitten im Salon; durch die geschlossenen Läden, die die helle Sonne abhielten, sickerte nur wenig Licht, wie Goldstaub. Mit einem heftigen Kopfschütteln sagte sie: »Es kann nicht so weitergehen, nein, es kann nicht so weitergehen« und wiederholte das Gesagte noch mehrmals. Im Fenster sah sie ihr kleines blasses Gesicht, und fast bekam sie Angst vor ihrem eigenen Blick. Lauter sagte sie: »Ich bin unglücklich«, und ein trockenes, tränenloses Schluchzen erschütterte ihren Körper. Blindlings ging sie zum Fenster, stieß die Läden auf und blieb mit verschränkten Armen stehen, um mit stumpfem Blick die helle Straße zu betrachten. Vor dem Haus hatte gerade ein kleines Auto gehalten. Sie beugte sich vor und erkannte den Wagen ihres Cousins, Jean-Paul Franchevielle. Sie klingelte einem Diener, um ihm aufzutragen, den Besucher nicht zu empfangen. Doch es war schon zu spät; das Läuten an der Tür ertönte fast gleichzeitig mit ihrem Klingeln. Sie hörte Jajas Stimme in der Eingangshalle, und gleich darauf stand er im Zimmer.
    »Du bist allein, Denise?«
    »Wie du siehst.«
    Freudlos betrachtete sie sein feines, ein wenig spitzes Gesicht. Gewöhnlich ließ er keine Gelegenheit verstreichen, sie aufzuziehen. Doch dieses Mal verzichtete er darauf, ihre kummervollen Augen, ihr abgezehrtes Aussehen zu kommentieren. Er sagte nur:
    »Gestern habe ich deinen Mann vor den Toren der Stadt getroffen, und er hat mir gesagt, daß er ohne dich nach Étampes fährt.«
    »Stimmt. Und du, was machst du in Paris bei dieser Hitze?«
    Jaja zögerte; dann antwortete er mit seinem dünnen kleinen Lächeln, eigentlich nur einem Verziehen der Mundwinkel, das einen nervösen Gesprächspartner dazu verleiten konnte, ihn zu ohrfeigen:
    »Wenn ich sagte, daß ich nur in der Stadt geblieben bin, um dich zu sehen, würdest du mir wahrscheinlich nicht glauben.«
    »Wahrscheinlich«, sagte Denise, die unwillkürlich die Sprechweise der Fünfzehnjährigen annahm, der es Spaß gemacht hatte, den Ton und das Gebaren ihres jungen Cousins, damals Schüler des Janson-de-Sailly-Gymnasiums, nachzuäffen. Jaja lachte halbherzig.
    »Siehst du.«
    Denise hatte sich aufs Sofa gesetzt. Sie fragte:
    »Willst du etwas essen oder trinken?«
    »Klar. Likör, feinen Weinbrand und jede Menge Eis.«
    Er hatte sich auf seinem Lieblingsplatz niedergelassen, auf einem Sitzkissen am Boden.
    »Weißt du noch, Denise, wie wir im Klassenzimmer Cocktails gemischt haben und sie dann in unseren Pulten versteckt haben?«
    »Ja, ich erinnere mich … Unser Klassenzimmer auf dem Land …«
    »Wir sind einfach aus dem Fenster gesprungen und in den Park gerannt …«
    »Weißt du noch, die alte hohle Weide, in der wir uns versteckten?«
    »Und die Schaukel, die so gequietscht hat?«
    »Und der Bach, den wir zwanzigmal am Tag überquerten, nur weil es uns soviel Spaß machte, nasse Füße zu kriegen?«
    »Und die Mühle? Weißt du noch, wie wir die steile Leiter hochgeklettert sind in den Speicher und wie wir uns hinter den Mehlsäcken versteckten?«
    »Ich war wie ein Junge … Francette ist genauso …«
    »Wo ist sie eigentlich, deine Tochter?«
    »Im Pré Catelan.«
    Jaja wußte genau, was er tat, wenn er ihre gemeinsame Kindheit heraufbeschwor. Für alle noch so unbedeutenden Dinge der Vergangenheit empfand Denise zärtliche Be geisterung. Sofort war ihr Gesicht weicher geworden, und Jean-Paul bemerkte jenes amüsierte und gerührte Lächeln, das er so gut kannte.
    Da fragte er sanft:
    »Erwartest du jemanden?«
    Sie zögerte ein wenig und verneinte.
    Er sagte:
    »Sollen wir einen Ausflug machen? In meinem Auto?«
    »Hat deine Freundin dich sitzenlassen, Jaja?«
    »Das laß meine Sorge sein … Kommst du mit?«
    »Wohin?«
    »Wohin du willst. Raus aus Paris?«
    »Lieber nicht. Wir könnten jemanden treffen.«
    »Na und?«
    »Jacques wäre das gar nicht recht. Verstehst du nicht? Gestern erst wollte er mit mir aufs Land fahren, und ich wollte nicht.«
    »Das leuchtet ein. Wir bleiben also in der Stadt. Wir

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