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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis
Autoren: Irene Nemirovsky
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quicklebendig sind und immer lachen wie Ihre Tochter.«
    »Das tut sie nicht immer«, sagte Denise lächelnd. »Aber sie tut es vor allem hier … Das Meer berauscht sie, diese Kleine … Sie kann so leicht und plötzlich vom Lachen zum Weinen wechseln, daß es zum Verzweifeln ist.«
    »Wie heißt sie?«
    »Francette – France, weil sie am Tag des Waffenstillstands geboren wurde.«
    Jessaint sagte:
    »Komisch, daß Sie Kinder so gern mögen … Bei mir ist es anders. Natürlich bin ich in meine Tochter verliebt, aber die Kinder von anderen kann ich nicht ertragen … Sie machen Lärm, sie töten einem den Nerv …«
    »Tut Ihr eigenes Kind das etwa nicht?« protestierte Denise. »Sie allein ist schlimmer als eine ganze Kinderhorde!«
    »Nein, Sie übertreiben … Und außerdem ist sie ja meine eigene, und vor allem die Ihre«, sagte er, indem er sich über die Hand seiner Frau beugte und einen Kuß darauf hauchte …
    Yves beobachtete ihn und sah, daß seine Miene sich voller Zärtlichkeit aufhellte, wenn er mit Denise sprach. Jessaint bemerkte den Blick des jungen Mannes; er fürchtete, daß Yves seinen Gefühlsausbruch geschmacklos gefunden hatte, und sagte etwas verlegen:
    »Das kommt Ihnen wahrscheinlich idiotisch vor … Ich bin nur so liebevoll, weil ich bald abreise …«
    »Sie reisen ab?«
    »Ja, ich muß nach London … Für ein paar Wochen … Ich werde heute abend fahren.«
    Und da es ihm peinlich war, soviel von sich und den Seinen gesprochen zu haben, fragte er:
    »Und Sie, mein lieber Harteloup, was haben Sie in der Zwischenzeit gemacht?«
    Yves machte eine vage Geste.
    Jessaint erklärte seiner Frau:
    »Harteloup und ich waren Zimmergenossen im Krankenhaus von Saint-Anges, diesem schrecklichen, finsteren Dorf in Belgien, ich weiß nicht mehr, wie es hieß …«
    »Wassin … oder Lieuwassin?«
    »Lieuwassin … genau … Er war übel zugerichtet, der arme Junge …«
    »Ein Lungendurchschuß«, sagte Yves, »aber das ist auskuriert.«
    »Um so besser, um so besser … Mein Bein tut mir immer noch weh, ich kann kein Pferd mehr besteigen …«
    Denise fragte:
    »Haben Sie beide sich seit dem Krieg schon einmal wiedergesehen?«
    »Ja, ein paarmal bei den Haguets, und in der Rue Bassano, nicht? Bei Louis de Brémont. Aber ich wußte nicht, daß Sie verheiratet sind, Jessaint …«
    »Damals war ich noch nicht verheiratet, nur verlobt … Seit unserer Heirat gehen wir kaum noch aus … Ich bin oft auf Geschäftsreise.«
    »Ich weiß, ich habe von Ihrer Erfindung gehört«, sagte Yves.
    Es handelte sich um Anlagen, mit denen der Rauch von Industrieschloten umgeleitet und wieder nutzbar gemacht werden konnte. Während des Krieges hatte das dem kleinen Ingenieur Jessaint große Bekanntheit und ein bedeutendes Vermögen eingebracht.
    Jessaint errötete ein wenig; er hatte ein sympathisches, wenn auch etwas einfaches, grobschlächtiges Gesicht, das jedoch erhellt war von sehr weichen und sehr klugen blauen Augen.
    Der Kellner brachte den Kaffee, und Denise servierte ihn; die Sonne ließ die Härchen auf ihrem nackten Arm glänzen; sie hatte das ernste Lächeln einer kleinen Statue. Dann kreuzte sie die Arme hinter dem Nacken, schloß die Augen und begann, mit ihrem Stuhl schweigend hin- und herzuschaukeln, während die Männer sich mit gedämpften Stimmen weiter über den Krieg unterhielten, von jenen sprachen, die in Belgien ihr Grab gefunden hatten, und von den anderen, die zurückgekehrt waren. Etwas später wurden sie von Denise unterbrochen:
    »Entschuldigen Sie bitte … Können Sie mir sagen, wie spät es ist?«
    »Gleich vier Uhr, Madame.«
    »Oh, dann ist es Zeit, daß ich mich umziehe … Sollen wir noch nach Biarritz fahren, um einen Koffer für Sie zu kaufen, Jacques?«
    »Natürlich.«
    »Und ich«, sagte Yves und stand auf, »werde noch einmal baden gehen.«
    »Haben Sie keine Angst, daß das zuviel für Sie wird?«
    »Nie und nimmer, ich lebe auf, wenn ich im Wasser bin!«
    Sie gingen gemeinsam ins Haus, während Jessaint auf der Terrasse blieb, um seinen Kaffee zu Ende zu trinken. Yves betrachtete die junge Frau in Weiß, die vor ihm herging; ihr schwarzes Haar wirkte leicht und bläulich im hellen Licht, wie der Rauch orientalischer Zigaretten; am Fuß der Treppe wandte sie sich zu ihm um und lächelte.
    »Leben Sie wohl, Monsieur … Auf bald …«
    Sie gab ihm mit jenem angenehm freimütigen Blick die Hand, den er bereits bemerkt hatte. Dann verschwand sie in der Drehtür des Hotels,
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