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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis
Autoren: Irene Nemirovsky
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nicht sehen können, aber ihr Körper glich einer hinreißenden kleinen Statue. Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er daran dachte, daß ihm ein solcher Anblick in Paris schwerlich vergönnt gewesen wäre, während er ihm hier, am Strand, so natürlich vorkam. Gebräunt und rosig, wie sie war, mit all den Rundungen und all den Linien ihres Körpers, den man unter dem leichten Badeanzug ahnte, gehörte diese Frau ein wenig ihm, dem Unbekannten, da sie für ihn nicht weniger nackt war als gegenüber ihrem Geliebten. Vielleicht spürte er deshalb, als sie sich in der Menge der Badenden verloren hatte, einen ganz kleinen, rasch vorübergehenden Anflug von Bangigkeit, von Bedauern, ein Gefühl, das sich zur tiefen Verzweiflung verhielt wie ein Nadelstich zum Hieb eines Messers.
    Unversehens überfiel ihn so etwas wie Überdruß, und er legte sich auf die Seite, um zerstreut mit dem hellen Sand zu spielen, ihn zwischen den Fingern rieseln zu lassen wie einen Strang dünner, seidiger und reizvoller Haare. Dann blickte er wieder aufs Meer hinaus in der Hoffnung, die undeutlich wahrgenommene junge Frau aus dem Wasser kommen zu sehen. Weibliche Gestalten, schwarz und rosa, gingen an ihm vorbei; aber sosehr er sich auch anstrengte, sah er diejenige nicht mehr, nach der er Ausschau hielt. Schließlich erkannte er sie doch wieder, dank des Kindes, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog, weil es weinte und mit den Füßen aufstampfte; zweifellos war es das Salzwasser, das den lauten Protest verursachte, denn es hatte sich offenbar daran verschluckt. Die Mutter lächelte ein wenig und tröstete das kleine »Dummerchen«; dann bückte sie sich unvermittelt, hob es hoch, setzte es sich auf die Schultern und begann zu laufen. Yves sah deutlich ihre gut geformte und hoch angesetzte Brust, ihre geschmeidige und robuste Taille, die nur die ganz jungen Frauen von heute haben, die nie ein Korsett tragen, viel laufen und von klein auf tanzen; sie sah gleichzeitig kräftig und graziös aus und weckte die vage Erinnerung an eine Griechin, die aufrecht geht, ohne sich unter dem Gewicht der Amphore auf ihrer Schulter nach vorn zu beugen. Genauso trug sie ihr hübsches Kind, und sie war sehr einfach und sehr schön inmitten dieser schönen und einfachen Natur. Yves stützte sich fast ein wenig ängstlich auf den Ellbogen, um sie besser zu sehen, wenn sie an ihm vorbeiging; er wollte ihr Gesicht genau in Augenschein nehmen; und er sah es, sah, daß es fast ebenso dunkelbronzefarben war wie das ihrer kleinen Tochter, sah ein rundes Kinn mit einem Grübchen, einen halb geöffneten feuchten roten Mund, der nach Salz und Gischt schmecken mußte, sah jene arglose und ernste Miene, die nur Kinder und manchmal sehr junge Frauen haben; und dann sah er noch kurzgeschnittenes Haar, eine schmale, reine Stirn und schwarze, vom rauhen Seewind zerwühlte Locken, die so kräftig und rebellisch waren wie die Marmorlocken der Statuen jugendlicher Griechen. Sie war wirklich sehr hübsch. Schon war sie in einem Zelt verschwunden, und er war enttäuscht, weil er nicht genug Zeit gehabt hatte, die Farbe ihrer Augen zu erkennen.
    Einige Augenblicke später ging er wieder zum Hotelgarten hinauf; er war wie geblendet von der klaren Luft und der Sonne, und Kopfweh machte ihm zu schaffen. Er setzte langsam einen Fuß vor den anderen und blinzelte ein wenig, ohne sich von dem unerträglichen Licht befreien zu können, das auch an seinen Wimpern hängenzubleiben schien und ihn plötzlich störte, da er an die gebrochenen Farben des Pariser Himmels gewöhnt war. Er betrat die Hotelhalle, und dort fiel sein Blick als erstes auf das kleine Mädchen, das ihn mit Sand beworfen hatte und das jetzt laut lachend auf den Knien eines weißgekleideten Herrn auf und ab hüpfte. Yves betrachtete ihn; er glaubte, ihn zu kennen; er fragte den Pagen, der den Aufzug bediente, nach dem Namen.
    »Monsieur Jessaint«, erwiderte der junge Mann.
    ›Ich kenne ihn doch‹, sagte sich Yves.
    Er zweifelte keinen Moment daran, daß es sich um den Ehemann der hübschen Frau vom Strand handelte; aber statt sich über den Zufall zu freuen, der es ihm erlaubt hätte, sich ihr auf unkomplizierte Weise zu nähern, dachte er mürrisch und ohne jede Logik, wie es typisch ist für viele Männer:
    ›Zum Teufel! Schon wieder bekannte Gesichter … Kann man denn nicht einmal vierzehn Tage lang allein sein und seine Ruhe haben?‹

3
    Y ves Harteloup war 1890 geboren worden, mitten in der
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