Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht des Zorns - Roman

Die Nacht des Zorns - Roman

Titel: Die Nacht des Zorns - Roman
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
1
    Eine Spur kleiner Brotkrumen lief von der Küche zum Zimmer bis auf die sauberen Laken, in denen die alte Frau ruhte, tot und mit offenem Mund. Kommissar Adamsberg ging mit langsamen Schritten die Krümelspur entlang, schweigend betrachtete er die Bröckchen und fragte sich, welcher kleine Däumling oder in diesem Fall auch welcher Oger sie hier verstreut hatte. Die Wohnung bestand aus drei dunklen kleinen Zimmern im Erdgeschoss eines Hauses im 18. Pariser Arrondissement.
    Im Schlafzimmer die alte Frau auf dem Bett. Im Esszimmer der Ehemann. Geduldig und ohne jede Gefühlsregung wartete er, allein auf seine Zeitung sah er begehrlich, sie lag auf der Seite mit den Kreuzworträtseln aufgeschlagen, doch er traute sich nicht weiterzuraten, solange die Bullen da waren. Seine kurze Geschichte hatte er schon erzählt: Er und seine Frau hatten sich in einer Versicherungsgesellschaft kennengelernt, sie war dort Sekretärin, er Buchhalter, im Überschwang hatten sie geheiratet, ohne zu ahnen, dass das neunundfünfzig Jahre dauern sollte. Und nun war die Frau in der Nacht gestorben. An Herzstillstand, wie der Kommissar des 18. Arrondissements am Telefon präzisiert hatte. Da er ans Bett gefesselt war, hatte er Adamsberg angerufen mit der Bitte, ihn zu vertreten. Tu mir den Gefallen, es kostet dich nicht mal eine Stunde, reine morgendliche Routine.
    Noch einmal ging Adamsberg die Krümelspur entlang. Die Wohnung war in makellosem Zustand, die Sessel zierten Schonbezüge für den Kopf, alle Kunststoffoberflächen waren blankpoliert, die Fenster geputzt, der Abwasch erledigt.Er ging bis zum Brotkasten zurück, in dem noch ein halbes Baguette lag und, eingeschlagen in ein sauberes Geschirrtuch, ein großer Kanten, dessen Inneres ausgehöhlt war. Dann kam er zu dem Mann zurück und zog sich einen Stuhl zu dessen Sessel heran.
    »Keine guten Nachrichten heute Morgen«, meinte der Alte und sah von seiner Zeitung auf. »Diese Hitze aber auch, da kocht einem das Gemüt. Hier im Erdgeschoss kann man die Kühle wenigstens halten. Darum lasse ich auch die Fensterläden zu. Und viel trinken muss man, sagen sie.«
    »Sie haben nichts bemerkt?«
    »Als ich mich hinlegte, war sie ganz normal. Ich sah nämlich immer noch mal nach ihr, weil sie herzkrank war. Erst heute Morgen habe ich bemerkt, dass sie gestorben ist.«
    »In ihrem Bett sind Brotkrümel.«
    »Ja, das mochte sie. Im Liegen noch was knabbern. Ein Stückchen Brot oder einen Zwieback vorm Einschlafen.«
    »Ich könnte mir eher vorstellen, dass sie danach alle Krümel beseitigt hätte.«
    »Aber sicher. Sie putzte von früh bis abends, als wenn das ihr Lebenszweck wäre. Am Anfang war es gar nicht so schlimm. Aber mit den Jahren wurde es geradezu eine Besessenheit. Sie hätte etwas schmutzig gemacht, nur um es saubermachen zu können. Das hätten Sie mal sehen müssen. Und gleichzeitig war sie dadurch auch beschäftigt, die Gute.«
    »Aber das Brot? Hat sie gestern Abend nicht saubergemacht?«
    »Natürlich nicht, denn da hab ich es ihr ja gebracht. Sie war zu schwach, um aufzustehen. Klar hat sie mir befohlen, die Krümel wegzunehmen, aber mir ist das doch so was von egal. Sie hätte es am nächsten Tag ohnehin gemacht. Jeden Tag hat sie das Bettzeug ausgeschüttelt. Keine Ahnung, was das soll.«
    »Sie haben ihr also Brot ans Bett gebracht und haben es dann in den Kasten zurückgelegt.«
    »Nein, ich habe es in den Mülleimer geworfen. Es war viel zu hart, das Brot, sie konnte es schon nicht mehr essen. Ich habe ihr einen Zwieback gebracht.«
    »Es liegt aber nicht im Mülleimer, es liegt im Brotkasten.«
    »Ja, ich weiß.«
    »Und die Krume ist rausgepult. Hat sie die ganze Krume gegessen?«
    »Aber nicht doch, Kommissar. Warum sollte sie sich mit Brotkrume vollstopfen? Noch dazu von altbackenem Brot? Sie sind doch Kommissar, oder?«
    »Ja. Jean-Baptiste Adamsberg, Brigade criminelle.«
    »Und warum kommt nicht die für das Viertel zuständige Polizei?«
    »Der Kommissar liegt mit einer Sommergrippe im Bett, und sein Stab ist unabkömmlich.«
    »Alle die Grippe?«
    »Nein, es gab eine Schlägerei heute Nacht. Zwei Tote und vier Verletzte. Wegen eines gestohlenen Motorrollers.«
    »Scheiße. Ich sag’s ja, bei dieser Hitze kocht den Leuten das Gehirn. Also, ich bin Tuilot Julien, Finanzbuchhalter im Ruhestand der Versicherungsgesellschaft ALLB.«
    »Ja, habe ich notiert.«
    »Sie hat mir immer vorgeworfen, dass ich Tuilot heiße, ihr Mädchenname, Kosquer, sei viel schöner.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher