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Das Meer in deinen Augen

Das Meer in deinen Augen

Titel: Das Meer in deinen Augen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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abgeben sollte: Ich würde bei der letzten anfangen mit deiner Suche.« Die Lesebrille saß wieder auf ihrer Nase. Ihre Stirn lag in tiefen Falten. Als sie die drei Anschriften notiert hatte, schob sie den Zettel zu Emma herüber, die ihn eilig einsteckte.
    »Ich habe deine Mutter oft gefragt, ob es denn nicht besser wäre, wenn du ihn ab und zu treffen könntest. Sie meinte immer, dass du das nicht willst. Scheinbar hast du deine Meinung geändert.«
    Emma stand schon in der Tür und nickte diesmal nur. »Du solltest dir ganz sicher sein.«
    »Das bin ich.«
    Diesmal nahm sie die Treppe. Die Schritte hallten nach, bis sie das Gebäude verlassen hatte. Sie würde dem Rat folgen. Die letzte Adresse zuerst. Der Kön igswall lag in der Weststadt. Gar nicht weit von Lillys Mutter entfernt. Es war erst knapp zwei Wochen her, dass sie dort geschlafen hatte. Sie sah sich wieder mit Lilly am offenen Fenster ihres Zimmers stehen und gemeinsam rauchen. Auf ihrem Handy war gerade eine Nachricht von ihr eingetroffen: Warum bist du nicht in der Schule? Emma hatte nicht zurückgeschrieben. Es hatte noch Zeit, bis sie ihr alles erzählen konnte. Sie würde sich noch überlegen, was sie mit ihrer Freundin teilen und was ihr Geheimnis bleiben würde. Wieder einmal fuhr die Bahn an den riesigen Blocks vorbei. Durch die dicke Wolkendecke drangen nur ab und zu ein paar Sonnenstrahlen. Sie wurden schnell von dem Beton verschluckt. Die Fenster spiegelten das Grau. Hier gab es keine Farben. Königswall , sagte die automatische Frauenstimme an. Emma dach te in letzter Sekunde daran, auszusteigen. Quietschend schlossen sich die Türen hinter ihr. Da stand sie. Nur ein kleiner dicker Mann im Blaumann, der sich immer wieder am Bart zupfte, saß auf der Bank des Wartehäuschens und starrte sie an. Sie flüchtete über die Straße und lief weiter auf der Suche nach der richtigen Hausnummer. Fünfundfünfzig, siebenundfünfzig … einundsiebzig. Emma nahm den schmalen Weg vorbei an den Mülltonnen, bis sie vor der Haustür stand. Das Glas hatte einen Sprung. Werner stand unleserlich auf einem winzigen Schild. Emma drückte die Klingel und wartete. Nichts passierte. Sie legte den Finger noch einmal auf das kalte Metall. Wollte sie ihn wirklich wiedersehen? Bevor sie sich entschieden hatte, knackte es in der Gegensprechanlage. »Ja?« Lange hatte sie die Stimme nicht mehr gehört. Bestimmt sechs Jahre war es her. Sie klang fahrig und erschöpft, und doch kam sie ihr so bekannt, so vertraut vor.
    »Hier ist Emma.« Mehr fiel ihr nicht ein. Ein Schlucken war am anderen Ende zu hören, dann knackte es wieder, und die Tür summte. Immer noch konnte sie es sich überlegen. Da schloss sich bereits der Fahrstuhl und setzte sich in Gang. Es war zu spät umzukehren. Der Aufzug rüttelte, während er höher stieg. Das Poltern im Schacht übertrug sich auf die muffig riechende Kabine. Er wohnte ganz oben. Im letzten Stockwerk, darüber hing nur der schwere graue Wolkenteppich.
    »Du solltest mich besser nicht so sehen.« Der Mann, der im Türrahmen lehnte, war ein Fremder. Auch wenn sie die Stimme erkannte, musste sie näher treten, um sich zu vergewissern, dass er es war. Das Gesicht war knochig geworden. Die Wangen eingefallen. Die Haut bleich. Die Haare verfilzt. Er trug ein altes ausgewaschenes T-Shirt und eine Jeans mit Löchern. Mit der Hand strich er sich über sein unrasiertes Kinn.
    »Geh nach Hause, Emma«, seufzte er flehentlich.
    Sprachlos schaute sie ihn an. Was hatte sie ihm nicht alles sagen wollen. Vorwürfe, Fragen, Beleidigungen. Jetzt, da er ihr gegenüberstand, fiel ihr nichts mehr ein. »Was ist aus dir geworden?«, flüsterte sie nur und ließ ihre Tasche fallen. »Das siehst du doch.« Er drehte sich um und ging voraus in die kleine Wohnung. In der Küche standen drei leere Weinflaschen und eine Packung abgestandene H-Milch neben einem Holzbrett, auf dem alte Brotkrumen vertrockneten. Die Uhr darüber war stehen geblieben, der Sekundenzeiger zuckte immer noch, kam aber nicht von der Stelle. In der Spüle standen Teller und Töpfe, die darauf warteten, abgewaschen zu werden. Das Aggregat des Kühlschranks setzte sich gerade wieder in Gang. Bestimmt war er fast leer.
    »Warum bist du gekommen?«
    Emma blieb im Flur stehen und zuckte stumm mit den Schultern.
    »Das alles ist nicht meine Schuld.« Er schaute ihr das erste Mal direkt in die Augen.
    »Dein scheiß Selbstmitleid. Kannst du damit mal aufhören?« Sie sagte es ganz
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