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Das Meer in deinen Augen

Das Meer in deinen Augen

Titel: Das Meer in deinen Augen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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jetzt wahrscheinlich keine Eier mehr.«
    »Oder ziemlich matschige.« Sie mussten lachen und heulen, bis ihnen der Hals schmerzte.
    Emma versuchte sich anstecken zu lassen, aber es gelang ihr nicht. Diese Geschichten waren nicht ihre Erinnerungen. Die Bilder fehlten. Sie lächelte nur matt und schaute in den dunklen Wald, wo der Specht immer noch hämmerte. Erst als Finns kräftige Hand auf ihrer Schulter lag, schaute sie sich um und wusste, dass sie nicht alleine war. »Ich find’s gut, Emma. Ich find’s echt gut, dass du dabei bist. Er hätte das auch gewollt.« Sie nickte, schluckte, aber jetzt musste auch sie weinen.

23
    Wohin man auch schaute, war die Landschaft grün. Links und rechts der schmalen Straße lagen die Wiesen, auf denen die Schafe weideten. Die meisten schliefen, nur wenige grasten schon in der Früh. Weit und breit war keine Ortschaft auszumachen, nur einige mit Reet gedeckte Häuser. Ganz weit in der Ferne standen ein paar Windräder und drehten sich in der steifen Morgenbrise. Dazwischen rotierten die Blätter einer alten Getreidemühle. Die Sonne ließ das saftige Gras leuchten und wenn eine Böe über die glänzenden Halme streifte, sah es fast aus, als wogte eine Welle herüber. Nur ein ganz feiner Frühnebel lag über dem Land. Es war ein rotes, warmes Licht, das die Sonne durch die getönten Scheiben warf, sodass es in seine Regenbogenfarben zerbrach und in jeden Winkel des Autos kroch. Halb sechs zeigte die Uhr an.
    »Wo sind wir?« Finn blinzelte noch, geblendet von der Helligkeit.
    »Gleich da«, entgegnete Benjamin abwesend und starrte geradeaus. Die Deiche tauchten auf, dann die Dünen.
    » Halt hier an.« Benjamin bremste den Wagen wei ch auf dem Asphalt. Da standen sie. Mitten auf einer schmalen Straße. Wäre ihnen jemand entgegengekommen, sie hätten keine andere Möglichkeit gehabt, als in den Graben auszuweichen. Doch niemand hatte sich um diese Stunde hierher verirrt.
    Nur auf dem Deichweg, der hinter ihnen lag, fuhr ein vollbärtiger Mann mit Anglerhut auf einem alten rostigen Fahrrad vorüber und taxierte sie misstrauisch.
    Emma scherte sich nicht darum. Stattdessen legte sich der Anflug eines Lächelns auf ihre Lippen. Die frische Brise wirbelte ihr die Haare ins Gesicht und nahm ihr für einen Moment die Sicht. Nachdem sie die lockigen Strähnen beiseitegestrichen hatte, war der Radfahrer schon in der Ferne verschwunden, wo sie jetzt die Spitze eines Leuchtturms ausmachen konnten. Emma nahm einen tiefen Atemzug, der salzig schmeckte und die Müdigkeit allmählich vertrieb.
    »Lasst uns ins Wasser gehen. Ich will schwimmen.« Finn war als Letzter ausgestiegen und hatte noch Mühe, die Augen offen zu halten. »Ich muss erst mal wach werden.«
    Er trottete langsam voraus und ließ die beiden zurück. Emma suchte Benjamins Blick und fand ihn. Er sah aus, als wolle er sagen, dass ihnen wohl nichts anderes übrig blieb. Dann liefen sie beide los, überholten Finn und erreichten die Dünen. Keine andere Menschenseele war weit und breit zu sehen. Es war, als würden sie ein unberührtes Stück Welt betreten. Emma stürmte voran, versank aber gleich mit den Ballerinas im Sand. Benjamin musste lachen und half ihr dabei, sich zu befreien. Sie warf die Schuhe fort und stieg weiter hoch, bis sie die Spitze der Düne erklommen hatte. Zwischen ihren Zehen zerflossen die feinen Sandkörner. Trotzdem hatte sich der Boden unter ihr nie so fest und sicher angefühlt. Das Meer tat sich vor ihr auf. Es schien gerade erst zu erwachen. Die heranrollenden Wellen waren noch flach, das gleichmäßige Rauschen noch verhalten. Der Anblick verschlug ihr für einen Moment die Sprache.
    Finn war inzwischen angekommen und blieb nicht lange stehen. Er riss sich das T-Shirt herunter und warf es in den Wind. Am Strand ließ er die Hose fallen und drehte sich um. Mit breiter Brust streckte er die Arme aus und schrie gegen die Brandung an: »Kommt her, kommt schon. Oder wovor habt ihr Angst?«
    Das eiskalte Wasser biss in die Haut und elektrisierte jedes Haar. Dann fühlte es sich plötzlich ganz normal an – der Schmerz war überwunden. Emma kämpfte gegen die höherschlagenden Wellen an und schwamm hinaus, bis der Strand weit entfernt war. Jetzt ließ sie sich treiben und paddelte nur noch auf der Stelle. Sie hörte seinen Atem und wusste, dass Benjamin es war, der hinter ihr schwamm. Sie drehte sich nach ihm um.
    Sie waren nicht weit voneinander entfernt. Wenn eine Welle sie erfasste, würden sie sich
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