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Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Beatriz Williams
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öffnete ich die schweren Augenlider, weil ich so gerne sein Gesicht sehen wollte; und da war es, ein wenig verschwommen und besorgt verzogen.
    »Warwick«, sagte er und hob den Kopf, »glaubst du, du kannst diese Horde verscheuchen? Und schau, ob ein Arzt darunter ist.«
    »Vermutlich nicht«, entgegnete Geoff Warwick, setzte sich jedoch in Bewegung. Als ich den Kopf in seine Richtung drehte, stellte ich fest, dass mindestens ein Dutzend Menschen ehrfürchtig schweigend einen Kreis gebildet hatten. Ich wollte mich aufrichten, doch wieder wurde ich von Schwindel und Übelkeit ergriffen, so dass ich die Augen schließen musste.
    Furcht schwang in Julians Stimme mit. »Madam, kann ich Ihnen helfen? Haben Sie Schmerzen?«
    »Nein. Nur müde. Lange Reise.« Ich versuchte zu lächeln, doch mein Mund schien mir nicht gehorchen zu wollen.
    »Soll ich Sie zu Ihrer Unterkunft begleiten? Kann ich sonst etwas für Sie tun? Warwick!«, rief er. »Hast du einen Arzt aufgetrieben?«
    »Jemand ist losgegangen, um einen zu holen«, entgegnete Warwick und kehrte zurück. »Wie fühlt sie sich?«
    »Sie ist bei Bewusstsein und kann sprechen. Offenbar ist sie ein wenig verwirrt.«
    »Nein! Es geht mir gut. Wirklich.« Noch einmal setzte ich mich auf, diesmal mit mehr Erfolg.
    »Ashford, sie ist Amerikanerin!«, verkündete da eine andere Stimme hinter mir. Julians zweiter Begleiter. Ich konnte sein Gesicht nicht ausmachen.
    »Ja, das ist mir klar«, erwiderte Julian. Er betrachtete mich nachdenklich.
    »Woher kennst du sie?«, erkundigte sich Warwick.
    »Ich kenne sie nicht.«
    »Sie wusste, wie du heißt.«
    »Ich schwöre bei Gott, Warwick, ich habe sie noch nie im Leben gesehen«, beharrte Julian ungeduldig. »Madam, wo wohnen Sie? Ich kann Sie nicht allein nach Hause gehen lassen.«
    »Noch nirgendwo«, antwortete ich. »Ich bin gerade erst angekommen.«
    Eine Pause entstand. »Du musst sie aus diesem Regen rausschaffen«, meinte die andere Stimme.
    »Ja, natürlich«, sagte Julian. »Glaubst du, dass das Chat schon geöffnet hat?«
    »Noch nicht.« Warwick klang beinahe schadenfroh. Offenbar war seine Selbstgefälligkeit keine moderne Erfindung.
    Wieder eine Pause. »Madam, können Sie gehen?«
    »Ich … ja, selbstverständlich.« Ich rutschte von seinem Knie und testete meine Beine. Noch ein wenig wacklig zwar, aber sie trugen mich. Julians Arm stützte weiter meinen Rücken.
    »Warwick, du und Hamilton wartet hier auf den Arzt«, sagte Julian über die Schulter. »Richte ihm aus, wir seien in der Rue des Augustins.«
    Arthur Hamilton. Florence’ Bruder. Ich reckte den Kopf, um ihn anzusehen, doch sein Gesicht war unter dem tropfnassen Schirm seiner Offiziersmütze nicht zu erkennen.
    »Herrgott, Ashford, du kannst sie doch nicht in unser Quartier bringen!«
    »Verzeihung, Madam«, wandte sich Julian leise an mich und drehte sich dann zu Warwick um. Mit scharfer Stimme zischte er ihm etwas ins Ohr. Wahrscheinlich nahm er an, dass ich zu schwach war, um das Gespräch zu verfolgen. »Wohin zum Teufel denn sonst? Es regnet in Strömen. Die Cafés haben noch nicht geöffnet. Sie ist kein Straßenmädchen, so viel steht fest.«
    Warwick schnaubte vielsagend.
    »Um Himmels willen, schau sie dir doch nur an. Hast du schon einmal eine Prostituierte mit so einem Gesicht gesehen?«
    »Du bist wahnsinnig, Ashford. Sie könnte genauso gut eine Spionin sein.«
    »Unsinn. Wo ist deine Nächstenliebe, Mann?« Er wandte sich wieder an mich. »Sind Sie wirklich sicher, dass Sie gehen können?«
    »Ja«, beteuerte ich und machte einen Schritt. Da sich der anfängliche Schreck, ihm gegenüberzustehen, allmählich legte, kehrten meine Kräfte zurück. Allerdings hielt sich eine leichte Übelkeit.
    »Ich stütze Sie. Kommen Sie, es ist nicht weit. Meine Vermieterin hat einen gemütlichen Salon, wo Sie ungestört wären, bis Sie wieder bei Kräften sind.«
    »Ich …« Beinahe hätte ich abgelehnt, doch dann fiel mir ein, dass ich ja deshalb hier war – um sein Mitgefühl zu wecken und sein Vertrauen zu gewinnen. »Es tut mir so leid, dass ich Ihnen Umstände mache«, beendete ich stattdessen den Satz. Die Worte klangen fremd.
    »Also gut«, sagte er und schob mich mit dem Arm vorwärts. »Benimm dich ausnahmsweise einmal anständig, Warwick«, fügte er hinzu, »und kümmere dich um den Arzt. Hamilton, du hilfst ihm doch?«
    Er führte mich über den Platz und in eine Seitenstraße. Dabei sprach er nur, um mich vor losen Pflastersteinen oder
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