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Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Beatriz Williams
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Bordsteinkanten zu warnen. Ich stolperte neben ihm her wie in einem Traum. Vielleicht war es ja auch einer. Zumindest kam es mir so vor, als ich in dieser düsteren, fremden, vom Krieg gebeutelten französischen Stadt eine Straße entlangging, während der Regen mir eiskalt den Mantel hinunterrann und Julians rechter Arm mich von hinten umfasste.
    »Gleich hier um die Ecke«, meinte er aufmunternd. Er war so nah, dass ich den leichten Duft seiner Rasierseife riechen konnte, und musste mir die Fingernägel in die Handflächen graben, um es mir nicht anmerken zu lassen, indem ich mich an ihn lehnte und ihm ebenfalls den Arm um die Taille legte.
    Vor mir erschien eine Tür. Julian öffnete sie und schob mich in einen engen Flur. »Madame!«, rief er. »Madame, s’il vous plaît! Kommen Sie mit«, fügte er hinzu und zog mich durch eine Tür auf der linken Seite.
    Er hatte das Zimmer als Salon bezeichnet, ein großes Wort allerdings für einen Raum wie diesen. Ungestört mochte ich hier sein, doch mit seinen kahlen Dielenbrettern, den spärlichen Möbeln und dem kläglichen Kohlenfeuer verbreitete das Zimmer eine ungastliche, wenn nicht gar abweisende Atmosphäre. Der schwache Lichtkegel einer einzigen elektrischen Lampe konnte die Dämmerung kaum durchdringen. Draußen rüttelte der Sturm zornig an zwei mit dunklen Vorhängen versehenen Fenstern.
    »Geben Sie mir Ihren Mantel. Er ist ja klatschnass«, wies Julian mich an und führte mich zu einem gedrungenen bäuerlichen Sofa, auf dessen burgunderroten Polstern Generationen von morgendlichen Besuchern ihre Spuren hinterlassen hatten. Als ich den Mantel gehorsam aufknöpfte, spürte ich, dass Julian von hinten meine Arme berührte und mir die Ärmel abstreifte. Er faltete den Mantel einmal der Länge nach und legte ihn aufs Sofa. »Nun setzen Sie sich. Keine Widerrede. Ich suche die Zimmerwirtin und bitte sie, Ihnen ein Teetablett zu bringen.« Er eilte hinaus.
    Ich ließ mich auf das eingesackte Sofa fallen und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Seit meiner Ankunft in diesem Jahrhundert war eine Woche vergangen, eine Woche voller Irrungen, Wirrungen und körperlicher Strapazen, in der ich mich von Mittelengland ins kriegsgebeutelte Frankreich aufgemacht hatte. Ich hatte alles neu lernen müssen, angefangen vom Umgang mit Pfund, Shilling und Pence bis hin zur richtigen Methode, einen Hut mit einer einzigen langen Nadel festzustecken. Aber ich hatte es ertragen, niedergedrückt von der quälenden Wucht einer unbeschreiblich tiefen Trauer. Inzwischen hatte sich mein Verstand an die Gegebenheiten gewöhnt – an die Verhältnisse im Ausland ebenso wie an die unerwartete Tatsache, dass sie so … alltäglich waren. Eigenartig zwar ohne die modernen Gerätschaften, Kleidungsstücke und Annehmlichkeiten, und dennoch so vertraut. Brot schmeckte nach Brot. Der Regen war so nass wie eh und je.
    Und Julian war immer noch Julian.
    Aber so jung. Du meine Güte. Die körperlichen Unterschiede waren fast unmerklich – das Haar eine Nuance heller, die Haut weicher, das Gesicht vielleicht runder und weniger markant. Die Veränderung lag eher in seiner Ausdrucksweise und seinem Verhalten. Natürlich hatte er jene unverkennbar befehlsgewohnte Art an sich; vermutlich hatte er sie schon seit seiner Kindheit besessen, und ein Leben als britischer Offizier hatte diese Neigung wahrscheinlich noch verstärkt. Nur, dass sie sich hier mit jugendlichem Überschwang, Arglosigkeit und weniger Gelassenheit und Erfahrung paarte. Mir fiel ein, dass er soeben erst seinen einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Ich war für ihn eine ältere Frau.
    Ein gefährlicher Gedankengang natürlich; mit einer bestürzenden Plötzlichkeit sah ich seinen strahlenden Körper in der Sommerdämmerung über meinem, so vollkommen lebensecht, dass ich angesichts des Bildes den Kopf senken musste und ein schweres Gewicht mir den Atem aus der Brust zu drücken schien. Unwirsch drehte ich den Ring an meinem Finger herum und zwang meinen Verstand, abzuschweifen und sich mit praktischen Dingen zu beschäftigen. Keine modernen Wörter, hielt ich mir vor Augen. Die Füße unter den Rock. Haltung.
    Brechreiz überkam mich.
    Als ich mich hastig nach irgendeinem Behältnis umsah, bemerkte ich auf dem Fensterbrett eine angeschlagene blaue Vase. Ich taumelte hin und erreichte sie gerade noch rechtzeitig.
    »Mein Gott!«, hallte da Julians besorgte Stimme von der Tür her.
    Ich sackte gegen das Fenster. Meine Kehle
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