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Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Beatriz Williams
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Amiens, März 1916
    D ie ganze Nacht hindurch und bis zum fahlen Morgengrauen hatte es unablässig geregnet.
    Mein Regenmantel hing mir bereits seit einiger Zeit schlaff am Körper, und noch immer sprühte mir, vom Kopfsteinpflaster ringsumher abprallend, eine bitterkalte Gischt gegen Hände und Gesicht und prasselte im Gleichtakt mit dem Sekundenzeiger auf mich ein, während die Gemeinde in der Kathedrale auf der anderen Seite des Platzes die Morgenandacht betete.
    In irgendeinem entfernten Winkel meines Verstandes muss ich meine missliche Lage zur Kenntnis genommen haben. Der Rest von mir bemerkte es hingegen kaum. Ich kauerte auf einer Holzbank im trügerischen Schutz einer grüngestreiften Kaffeehausmarkise und betrachtete wie in Trance die westliche Kirchenfassade. Dort drinnen, irgendwo in diesem gewaltigen Raum, stand Captain Julian Laurence Spencer Ashford inmitten seiner britischen Offizierskameraden und verneigte sich vor dem Herrn. Bald würde er aufstehen und durch das von Sandsäcken flankierte Tor auf den trüben und regennassen Platz hinaustreten, der uns voneinander trennte.
    Was sollte ich zu ihm sagen?
    Ein plötzlicher Regenschauer traf die Markise über mir und schwappte in einer Welle über das Pflaster. Im nächsten Moment hallten leise Glockenklänge über den Platz und kündigten das Ende des Gottesdienstes an.
    Ich stand auf; das Herz klopfte wie wild in meiner Brust. Die ersten Menschen strömten, verschleiert vom Regen und dem fahlen Morgenlicht, aus der Tür. Ich zögerte ein oder zwei Sekunden. Als ich mir unsere Begegnung ausmalte, ließ ein erneuter Anfall von Selbstzweifeln meine Muskeln erschlaffen.
    Plötzlich hatte ich einen neuen und noch viel schrecklicheren Einfall.
    Was, wenn ich ihn verpassen würde?
    In heller Angst hastete ich über den Platz. Auf diesen Gedanken war ich noch gar nicht gekommen. Keine Sekunde hatte ich die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass seine vertraute Gestalt unbemerkt an mir vorbeischlüpfen könnte. Nun wurde mir, als ein Mensch nach dem anderen aus dem Gebäude kam, schlagartig klar, dass sich britische Offiziere glichen wie ein Ei dem anderen. Alle waren mit den identischen khakifarbenen Trenchcoats und durchweichten Mützen bekleidet. Außerdem trugen sie Wickelgamaschen und dunkle Lederschuhe. Sie erinnerten an Figuren aus einem Geschichtsbuch oder einem Kriegsfilm und sahen überhaupt nicht aus wie der Mann, den ich kannte.
    Aber Julian war da. Es musste einfach so sein. Er hatte an diesem Tag, in dieser Stadt und in dieser Kathedrale mit den anderen Offizieren die Morgenandacht besucht und kehrte nun in seine Unterkunft in Bahnhofsnähe zurück. Das war eine historisch verbriefte Tatsache. Also ließ ich den Blick über die wogende Menschenmasse schweifen, steuerte entschlossen auf einen Mann in Khaki zu und hielt ihn an.
    »Entschuldigen Sie«, stieß ich hervor und räusperte mich. »Entschuldigen Sie, könnten Sie mir vielleicht sagen, ob Captain Julian Ashford heute Morgen beim Gottesdienst war?«
    Er musterte mich erstaunt. Lag es an meiner Frage oder dem modernen amerikanischen Akzent, in dem ich sie gestellt hatte?
    »Bitte«, flehte ich leise. »Es ist wirklich wichtig. Ich habe eine Nachricht für ihn.«
    »Ja, er ist hier«, erwiderte der Mann schließlich und drehte sich zum Kirchentor um. »Er saß ganz vorne und müsste gleich kommen.«
    Wartend stand ich da, ließ einen Kälteschauder meinen Körper hinunterlaufen. Einige französische Offiziere erschienen. Dann ein Pulk Krankenschwestern. Einheimische, alles Frauen. Ein einzelner britischer Offizier, der nicht Julian war.
    Und dann bemerkte ich ihn.
    Julian. Er sah noch genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte, und dennoch gleichzeitig so fremd. Sein makellos geschnittenes Gesicht, die breiten, starken Schultern, der Hauch eines Lächelns, das um seine vollen Lippen spielte. All diese Einzelheiten waren mir so vertraut. Vor einer Woche erst hatte ich sie zuletzt gesehen. Allerdings stellte die Uniform, die ihn den Männern herum anglich – ein himmelweiter Unterschied zu der modernen Kleidung, in der ich ihn kannte –, Entfernung her. Mein Verstand schien in zwei Hälften zu zerfallen, unfähig, diese beiden Bilder miteinander zu versöhnen.
    Ich stellte fest, dass er mit zwei anderen Offizieren davongehen wollte. »Julian!«, rief ich, doch das Wort kam nur als leises Krächzen heraus, das ich selbst kaum hören konnte. »Captain Ashford!«, rief ich erneut ein wenig
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