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Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Beatriz Williams
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und Charlie hätten die Zahlen am Freitagabend besprochen? Bevor Sie ins Wochenende gefahren sind?« Am Ende jedes Satzes hob ich die Stimme, damit er klang wie eine Frage. Mit Alicia legte man sich lieber nicht an, wenn man sich als nächstes Projekt nicht eine Pensionskasse in International Falls, Minnesota, einhandeln wollte.
    Dennoch blickte sie auf und funkelte mich finster an. Ihr kindliches Mondgesicht widersprach ihrer Persönlichkeit derart, dass man fast hätte meinen können, der liebe Gott habe sich einen Scherz mit ihr erlaubt. In gewisser Weise war es hübsch, insbesondere wegen ihrer auffällig blauen Augen unter schweren Lidern. Doch ihre derzeitige Frisur – kurz und gestuft, was vermutlich eine kecke Wirkung erzielen sollte – ließ ihr rundes gerötetes Gesicht aussehen wie das der Elfe Glöckchen während eines schweren allergischen Anfalls.
    Nicht, dass meine Meinung eine Rolle gespielt hätte. Laut Charlie schlief sie mit Paul Banner, Leiter der Abteilung Kapitalmärkte und mein momentaner Vorgesetzter.
    »Hm. Haben Sie heute das Schminken vergessen, Kate?«, flötete sie zuckersüß.
    An einem gewöhnlichen Morgen hätte mich eine Bemerkung wie diese – typisch Alicia, mit ihren kleinlichen Gehässigkeiten die ohnmächtige Wut ihrer Untergebenen noch zu schüren – zornig gemacht. Heute war es mir sogar zu lästig, mit den Schultern zu zucken. »In Ihrer Mail stand, ich solle mich beeilen. Außerdem haben Charlie und ich gestern bis spät in die Nacht an der Präsentation gesessen.«
    »Haben Sie eine Puderdose in der Handtasche?«, bohrte sie weiter. »Ich könnte Ihnen meine Wimperntusche leihen. Es ist, wie Sie wissen, ein wichtiger Termin.« Sie klopfte auf den Stapel mit den Präsentationsmappen. »Southfield Advisors ist ein zwanzig Milliarden Dollar schwerer Fonds. Ein Topkunde.«
    »Ich habe Lipgloss dabei.«
    »Gut. Sie werden nicht so bald wieder mit Julian Laurence in ein und demselben Raum sein. Also müssen Sie einen guten Eindruck machen.«
    »Meinetwegen, doch jetzt zurück zu den Zahlen. Ich hatte gestern schon Bedenken deswegen, aber Charlie sagte …«
    »Charlie ist ein Schwachkopf, das müssten Sie inzwischen bemerkt haben. Im Jahr fünf sollte die Gewinnerwartung nicht unter dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Prozent liegen. Bioderma ist ein wachsendes Unternehmen, Kate. Ist Ihnen bekannt, wie viel Hauttonikum sie im letzten Jahr verkauft haben?«
    Das war es, und zwar bis auf den letzten Dollar. Allerdings war die Frage offenbar rhetorisch gemeint. »Sehr viel«, erwiderte ich. »Doch der Patentschutz läuft aus …«
    »Ich scheiße auf das Patent«, entgegnete sie. »Sie werden jetzt eine neue Kalkulationstabelle mit einer Rendite von fünfundzwanzig Prozent im vierten und fünften Jahr erstellen. Drucken Sie zwölf Kopien aus und ersetzen Sie die Seite in allen Mappen.« Sie stand auf.
    »Es ist nicht nur eine Seite. Einige Statistiken beziehen sich auf diese Einschätzung …«
    »Dann tauschen Sie sie alle aus.«
    Ich sah auf die Wanduhr. »Äh … kommen die Leute von Southfield nicht um elf? Außerdem hat Banner um Viertel vor elf eine Vorbesprechung angesetzt.«
    Sie fuhr sich mit der Zunge über den Rand der Oberlippe. »Los, Kate. Wo ist die anpackende Art, wegen der wir Sie eingestellt haben? Suchen Sie sich einfach einen Praktikanten.«
    Sie griff nach ihrem Kaffeebecher und ging hinaus.

    »Schön, dass du dich auch noch blicken lässt«, knurrte ich, als Charlie zwei Stunden später in den Konferenzraum wankte. Ich beugte mich über meinen Laptop und schaute, in der Hoffnung, keinen Hinweis auf die neuen Gewinnerwartungen übersehen zu haben, die Dias für die Präsentation durch.
    »Tut mir leid, altes Mädchen. Mir ist das BlackBerry unters Bett gefallen. Hast du alles fertig?« Er wies mit dem Kopf auf den Plasmabildschirm an der Wand, der mit meinem Computer verbunden war.
    »Mit Müh und Not.« Ich klickte zurück aufs erste Dia und richtete mich auf. Vor lauter Anspannung taten mir Rücken und Genick weh.
    »Du bist spitze.« Er stellte zwei Becher auf den Tisch. »Friedensangebot. Mokka mit Pfefferminzaroma, extraheiß. War das richtig?«
    Ich betrachtete den Becher. »Danke«, sagte ich, griff danach und hielt die Nase in den köstlich nach Pfefferminz und Schokolade duftenden Dampf. Meine Anspannung legte sich ein wenig. »Und wo ist Banner?«
    »Ist er noch nicht hier?«
    »Natürlich nicht.« Die Tür ging auf, und ein Praktikant kam
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