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Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Beatriz Williams
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brannte – Galle und Scham.

2
    I ch konnte Paul Banner aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht ausstehen. Hauptsächlich lag es jedoch daran, dass er mir ständig auf die Pelle rückte.
    Seine Methoden waren nicht offensichtlich. In diesem Fall hätte ich der Sache nämlich leicht einen Riegel vorschieben können. Nein, seine Vorgehensweise war eher ein subtiles Heranpirschen, weshalb ich seine Grenzüberschreitungen nie wirklich zu fassen bekam. Zum Beispiel erschien er plötzlich an meinem Schreibtisch und lud mich unter dem Vorwand, mir berufliche Tipps geben zu wollen, zum Mittagessen ein, was den faden Beigeschmack eines Rendezvous mit einem lüsternen reichen Onkel hatte. Für gewöhnlich wartete ich dann angespannt darauf, dass seine Hand auf meinem Knie landen würde, während er seinerseits wahrscheinlich daran arbeitete, den Mut dazu zu finden.
    »Katie«, meinte er nun, als er wieder einmal unvermittelt vor meiner Arbeitskabine stand und meinen Ausschnitt mit einem langen Blick bedachte, »Lagebesprechung.«
    Es war kurz nach zwei, und mir fielen fast die Augen zu. Während des Wochenendes hatte ich etwa vier Stunden Schlaf abbekommen. Außerdem hatte Charlie mich gerade zu einem gewaltigen und fettigen Rindfleischsandwich – meine Lieblingssorte – vom Imbiss an der Ecke eingeladen, um mich über den Zwischenfall mit Alicia von heute Morgen hinwegzutrösten. Nun lag mir das Mittagessen im Magen wie eine warme planetarische Masse, deren Schwerkraft mir die Augenlider nach unten zog. Ich konnte kaum klar denken. »Lagebesprechung?«, wiederholte ich.
    »Nun, Sie wissen schon«, erklärte er. »Die Sache vorhin bei der Sitzung war ein wenig seltsam.«
    Ich spielte die Ahnungslose. »Warum? Wie ist es übrigens gelaufen?«
    »Gut. Ausgezeichnet. Ich glaube, die mögen mich«, erwiderte er bescheiden. »Lassen Sie uns einen Kaffee trinken. Sie sehen aus, als könnten Sie ihn gebrauchen.«
    Da konnte ich nicht widersprechen. Seufzend griff ich nach meiner Handtasche. »Charlie«, rief ich, weil ich fand, dass sicherheitshalber jemand wissen sollte, wo ich war. »Wir gehen nur schnell runter, einen Kaffee trinken.«
    Charlie blickte von seinem Computerbildschirm auf, sondierte die Lage und zog eine Augenbraue hoch. »Klar, altes Mädchen«, sagte er. »Bring mir das Übliche mit.«
    Bei Sterling Bates zu arbeiten hatte, wie ich es sah, unter anderem den Vorteil, dass es nebenan eine Kaffeebar gab. Nach Auffassung der selbsternannten Kaffeeexperten im Büro – der Leute also, die stundenlange Vorträge über Arabica- versus Keniabohnen und ähnliche Themen halten konnten – war Starbucks der letzte Mist. Ich hingegen war voll und ganz damit zufrieden. Man flüchtete sich dorthin, wenn man es in seiner Arbeitskabine nicht mehr aushielt. Außerdem nutzten wir bei Sterling Bates das Café häufig als inoffiziellen Besprechungsraum. Ein Finanzjournalist auf der Suche nach einer brandheißen Nachricht oder ein arbeitsloser Taxifahrer, der sich für Börsentipps interessierte, hätte sich deshalb nur mit einer Zeitung und einem Milchkaffee in besagte Starbucksfiliale zu setzen und die Ohren zu spitzen brauchen.
    »So, und wie schätzen Sie die Sache ein?«, begann Banner und trank einen Schluck Cappuccino. Vor zwei Sommern und einer ganzen Lebenszeit hatte ich in Italien gelernt, dass kein Mensch nach elf Uhr vormittags Cappuccino trinkt, ein Wissen, das mir das angenehme Gefühl moralischer Überlegenheit vermittelte.
    Ich verschränkte die Beine. »Keine Ahnung. Ich war ja nicht dabei. Was haben sie von den Gewinnerwartungen gehalten?«
    »Sie hatten einige Fragen.« Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch und spähte auf den schmalen, von Menschen wimmelnden Gehweg hinaus. Die Zentrale von Sterling Bates befand sich nur einen Häuserblock von der New Yorker Börse entfernt, was hieß, dass wir zu den verhältnismäßig wenigen an der Wall Street beschäftigten Leuten gehörten, die auch tatsächlich in der Wall Street arbeiteten. Meine Familie fand das faszinierend.
    Ich nahm einen Schluck Mokka und wartete darauf, dass Banner fortfuhr.
    »Katie«, sagte er schließlich, »was haben Sie nächstes Jahr vor. Ein Betriebswirtschaftsstudium?«
    »Ich glaube schon. Ich habe am Freitag den letzten Antrag abgeschickt.«
    »Wo haben Sie noch einmal Ihren Bachelor gemacht?«
    Ich zögerte. »University of Wisconsin.«
    »Richtig. Ich erinnere mich. Normalerweise stellen wir keine Absolventen von dort ein,
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