Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mal der Schlange

Das Mal der Schlange

Titel: Das Mal der Schlange
Autoren: Sophie Oliver
Vom Netzwerk:
Talglichtes alles repariert, was während des Sommers kaputt gegangen war, Möbel, Werkzeuge, Gerätschaften.
    Victor hatte acht Schwestern, doch immer wenn Mutter einen Jungen zur Welt brachte, starb dieser wenige Tage nach der Geburt. Nur er hatte überlebt. Deshalb hatten sie ihn Victor genannt, den Sieger. Er hatte den Tod besiegt, der sonst jeden Sohn der Eltern holte.
    Auf dem uralten kleinen Friedhof unterhalb der Kirche lagen sechs seiner Brüder. Jeden Sonntag nach der Messe war Mutter ans Grab gegangen und hatte um ihre verlorenen Söhne geweint.
    Victor war Vaters ganzer Stolz gewesen. Er musste nicht mit ihm hinaus aufs Meer fahren, morgens, noch bevor die Sonne aufging, sondern er durfte zuhause bleiben, bei Mutter und als er alt genug war, hatte man ihn sogar in die Schule geschickt.
    Niemand sonst aus seiner Familie konnte lesen oder schreiben.
    Deshalb war man begeistert gewesen, als ein fränkischer Adeliger Victor mit sich genommen hatte, um ihn auszubilden. So hatte er die Jahre seiner Jugend in Pula verbracht, der großen Hafenstadt, und neben den Wissenschaften hatte er dort auch das Kämpfen erlernt.
    Während Seeräuber sein Dorf überfallen hatten, seine Familie getötet und sein Haus niedergebrannt hatten, war er auf Reisen gewesen, mit seinem Herrn.
    Erst ein halbes Jahr später, als bereits eine fremde Familie die Ruinen seines Hauses wieder aufgebaut und in Besitz genommen hatte, hatte er erfahren, dass er nun alleine auf der Welt war.
    Im Gefolge des fränkischen Adeligen war er als junger Mann nach Norden gegangen. Irgendwann in den Wirren einer dunklen Zeit war er zu einem Jäger Kains geworden. Und schließlich war er nach Edinburgh gekommen.
    Die meisten seiner Brüder und Schwestern hatten im Laufe der Zeit vergessen, dass er eigentlich kein Schotte war, so lange lebte er schon dort.
    Victor war eintausend einhundert und achtunddreißig Jahre alt. Er liebte Edinburgh, aber in seinem Herzen bewahrte er immer die Erinnerung an die Heimat. Wenn er die Augen schloss, sah er noch heute die kleinen Inseln Istriens, roch er den salzigen Duft des azurblauen Meers und spürte er die Wärme der Sonne auf seiner Haut.
    Hier war er geboren worden und falls er sterben sollte, wollte er auch das hier tun.
    Langsam stieg er die langgezogenen Stufen der Gasse nach oben, bis zu der Stelle, an der früher das Haus seiner Familie gestanden hatte.
    Auch jetzt befand sich ein Gebäude dort, alt und in Form und Größe ähnlich dem Seinen, eingebettet zwischen zwei Nachbarhäuser, die wirkten, als müssten sie es stützen.
    Nachdem er es eine Weile betrachtet hatte, ging er weiter, bis zu dem großen Platz an der Kirche.
    Es war eine andere Kirche, als damals. In der Dunkelheit konnte er die Heiligenstatue auf dem spitzen Turm nur schemenhaft erkennen, aber sie war ihm ohnehin egal. Seine Augen suchten die Stelle, an der sich der Friedhof befunden hatte.
    Natürlich gab es auch diesen nicht mehr. Die terrassenartigen Hänge waren eingeebnet worden. Lediglich ein dezentes Hinweisschild verwies auf den einstigen Gottesacker.
    Nachdenklich trat er an die umlaufende Mauer des hoch gelegenen Kirchenplatzes, von der aus man bei schönem Wetter weit über das Meer sehen konnte.
    Der Wind zerzauste sein Haar, als er den Kopf drehte, in die Richtung, in der, wie er wusste, eine bewaldete Bucht lag. In der Dunkelheit konnte er nichts erkennen, aber er hörte die Wellen unter sich und dachte einen Augenblick daran, einfach hinunter zu springen, in die wilde See.
    Aber was würde das schon nutzen?
    Er war müde.
    Durch das Heulen des Windes konnte er Ilarias Schritte nicht hören, als sie sich ihm näherte, aber er spürte ihre Anwesenheit und drehte sich um.
    „ Hier bist du!“, Vorwurf lag in ihrer Stimme, „Ich habe dich schon gesucht. Wir sollten bei diesem schrecklichen Wetter nicht hier draußen sein.“
    Ohne ihr zu antworten, drehte er sich um und ging, so dass sie beinahe laufen musste, um mit ihm Schritt zu halten.
    Sie verließen das Dorf, durchquerten Wälder und Hügel, schließlich eine kleine Schlucht und das Gelände wurde immer unwirtlicher.
    „ Wohin gehen wir, Victor?“, fragte sie ihn schon zum wiederholten Mal. Bisher hatte er beharrlich geschwiegen, aber nun traten sie aus dem Dickicht eines Pinienwaldes und befanden sich wieder am Meer. Die Wintersonne stand so hoch am Himmel wie sie konnte, wärmte aber nur wenig. Trotzdem freute er sich, dass sie das Wasser zum Glitzern brachte und die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher