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Das Mal der Schlange

Das Mal der Schlange

Titel: Das Mal der Schlange
Autoren: Sophie Oliver
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ihren letzten Weg antrat, standen lediglich eine Handvoll Personen um den Sarg, allesamt nicht jünger als die Verblichene, und lauschten den Worten des Priesters, wohl wissend, dass einer von ihnen bald als nächster der Armen ins Grab folgen würde.
    Mit unbeteiligter Stimme erzählte er von Louises langem Leben, von ihrer Jugend, von ihrem Mann.
    „ Als ob er irgendeine Ahnung davon hätte, wie sie damals war. Er kannte sie doch gar nicht. Was weiß er schon, er war doch noch nicht einmal geboren als wir…“, John schüttelte unwirsch den Kopf, wie um seine Gedanken zu verscheuchen und trotz der Hitze schauerte er. Mit sechsundachtzig Jahren war er vier Jahre älter als Louise. Es schmerzte ihn, am Grab seiner Jugendfreundin stehen zu müssen. Sie kannten sich schon damals in der Heimat, vor der Jahrhundertwende, in England. Seit über dreißig Jahren lebten John und seine Frau Charlotte jetzt in den USA, aber in ihren Herzen waren sie immer Engländer geblieben. „Was für ein glückliches Paar sie doch waren“, dachte John. Robert und Louise. Sie hatten sich während der Sommerfrische in der Schweiz kennengelernt. Louise war Amerikanerin. Robert hatte sie direkt mit nach Hause gebracht, seinen Eltern und Freunden vorgestellt und umgehend geheiratet. Wie ein Wirbelwind war sie über sie hereingebrochen und wurde von allen sofort ins Herz geschlossen. John konnte sich nicht erinnern, jemals einen fröhlicheren, positiveren Menschen getroffen zu haben, der das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen lachend umarmte und jeden Tag glücklich annahm, egal was er brachte. Die jungen Jahre waren die schönsten ihres Lebens gewesen. Sie stammten aus privilegierten Familien, Aristokratie oder Geldadel, waren finanziell unabhängig, gebildet, attraktiv und das ganze Leben lag vor ihnen. Die einzigen Gedanken, die sie sich machten waren dahingehend, welches Fest der Gesellschaft sie mit ihrer Anwesenheit schmücken sollten und wohin man in die Sommerfrische fuhr.
    Bis Jacob nach Hause kam…
    Aber John wollte nicht an Jacob denken, stattdessen sah er hinüber zu dem einzigen Baum des kleinen Friedhofs, in dessen spärlichem Schatten eine schwarz gekleidete Frau stand.
    Als der Priester angefangen hatte zu sprechen war sie noch nicht da gewesen. Neugierig kniff er die Augen hinter der dicken Brille zusammen. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, denn sie trug einen Hut mit Schleier. Trotzdem wusste er, wer sie war. Ein Geist. Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran. Mochte er alt sein, blind war er nicht und ebenso wenig senil. Wahrscheinlich hatte er sie heraufbeschworen, mit seinen Gedanken – war so etwas möglich? Die Frau war groß und schlank und trug trotz der hochsommerlichen Temperaturen einen Mantel und schwarze lange Handschuhe, die in den Ärmeln verschwanden, so dass kein Stück Haut zu sehen war. Ihre Beine steckten in schwarzen Strümpfen, die in hohen Stiefeln endeten. Sie musste umkommen vor Hitze. Schuldbewusst sah John an seinem weißen, kurzärmligen Hemd und seiner beigen Hose hinunter. Charlotte hatte gesagt, niemand könnte bei diesem Wetter von einem verlangen Schwarz zu tragen und auch die anderen waren in heller Kleidung gekommen. Charlotte hatte gesagt, man könne in jeder Farbe trauern.
    Aber es war nicht richtig. Die Farbe der Trauer war Schwarz und nicht Beige. So schwarz, wie die Kleider der Frau unter dem Baum.
    „ Emmaline“
    Charlotte neben ihm zuckte zusammen, als sie diesen Namen hörte. Überrascht schnappte sie nach Luft, als sie die Frau sah. „Das kann nicht sein!“
    Auch die anderen sahen sich nun um, niemand hörte mehr dem Priester zu.
    „ Das ist sie nicht!“ Amelia fasste ihren Mann Nicholas am Arm und versuchte ihn wieder in Richtung des Pfarrers zu rücken, der weiterhin seinen Monolog hielt, als ob er nicht bemerkt hätte, dass die Aufmerksamkeit der Trauernden längst nicht mehr ihm galt.
    „ Ihr seid unhöflich“ zischte sie ihren Freunden zu.
    „ Natürlich ist sie das.“ Nicholas zog seinen Arm weg. „Das weißt du so gut wie wir alle. Wer sollte es denn sonst sein - heute - hier?“
    „ Aber das ist absolut unmöglich“, flüsterte Amelia, „Das kann nicht sein! Emmaline ist tot!“ Sie stieß ihren hölzernen Gehstock in den Boden, „Gestorben in der Heimat, vor langer Zeit.“
    „ Ihre Leiche wurde nie gefunden“, Nicholas machte einen Schritt auf die Frau zu, nahm seinen Hut ab und wischte sich mit der Hand über die Stirn. Dann setzte er ihn
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