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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Autoren: Khadra Sufi
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hoch war. Erst im Krankenhaus war mein Vater wieder ansprechbar. Nach einiger Zeit kam eine Ärztin ins Zimmer, verschlafen blickte sie mich an, nicht ihn. Es wirkte so, als würde sie ihm die deutsche Sprache nicht zutrauen. Und so, als hätten wir ihr leichtfertig den Schlaf geraubt, sagte sie zu uns: »Beim nächsten Mal nehmen Sie sich bitte ein Taxi, denn so ein Krankenwageneinsatz ist sehr teuer und wirklich nur für Notfälle gedacht.« Ich kochte innerlich und schwieg. »Wir behalten ihn zur Beobachtung ein paar Tage hier.«
    Monate später brach mein Vater in London erneut zusammen. Dort stellte man dann endlich fest, dass seine Nieren mittlerweile völlig funktionslos waren und sein Blut nicht mehr reinigen konnten. Seitdem hing sein Leben an Dialysemaschinen. Jedes
Mal, wenn ich ihn nach der Blutwäsche anrief, hörte er sich schwächer an, ich konnte ihn kaum verstehen. Es brach mir das Herz, aber ich schluckte meinen Schmerz und meine Tränen hinunter, denn ich wollte ihn nicht traurig machen. Er sollte sich auf mich verlassen können und ich wollte ihm von meiner Stärke etwas abgeben, so wie damals im Krieg.
    Während damals die Bomben um uns herum eingeschlagen waren, zählten wir die Stunden, bis auch wir unter den Trümmern liegen würden. Das einstürzende Nachbarhaus hatte einen solchen Lärm gemacht, dass mir das Blut spürbar durch den ganzen Körper schoss. In dieser Nacht hatte ich mit dem Leben abgeschlossen. Ich erreichte den Punkt, an dem jede noch so geringe Hoffnung mich verlassen hatte. Um mich herum hörte ich die lauten Gebete der fremden Menschen, die sich mit uns in diesem dunklen Keller versteckt hielten und sich bereit machten, ihrem Schöpfer gegenüberzutreten. Sie flehten zu Gott, dass er ihnen all ihre Sünden vergeben möge, denn auch sie spürten, dass ihr Leben in jeder Sekunde vorbei sein konnte. Trotz dieser alles verschlingenden Angst, die ich in jeder Faser meines Körpers spürte, habe ich es damals geschafft, stark und gefasst zu wirken. Die Angst in den Gesichtern meiner Familie werde ich nie vergessen …

2.
    SCHWARZE OSSI IM WUNDERLAND
    Eine schwarze Stoffdecke, gemustert mit orientalischen Symbolen in Gold und Bronze, wie sie typisch waren für die Gewänder der Frauen in Somalia, ist das Erste, woran ich mich aus meiner Zeit in Ostberlin erinnern kann.
    Es war frühmorgens und noch dunkel draußen. Meine Ayeya, was auf Somalisch »Oma« bedeutet, hatte in diese Decke einige Stoffe eingewickelt, die sie jetzt in ihren Schrank einsortierte. Wir waren gerade angekommen. Wir kamen aus Sanaa im Jemen, wohin wir, kurz nachdem ich in Mogadischu geboren worden war, über die Zwischenstation Sambia gezogen waren. Ich war drei Jahre alt und sollte nun bereits das vierte Land kennenlernen.
     
    Nach der Ankunft in unserer Botschaftsvilla im Stadtteil Pankow saß ich auf dem Boden zwischen dem ganzen Gepäck mit der Stoffdecke meiner Oma und versuchte, diese Decke mit einem Löffel durchzuschneiden, was nicht klappen wollte. Ich rutschte immer wieder mit dem Löffel ab, und durch die Reibung des Metalls an dem billigen Gemisch aus Baumwolle und Polyester bekam ich eine Gänsehaut. Irgendwann war ich so wütend, dass ich den Löffel wegwarf und anfing zu weinen. Ich war wohl von der langen Reise völlig übermüdet, und meine Ayeya steckte mich ins Bett.

    Unser neues Zuhause in Ostberlin war eine große beigefarbene Flachdach-Villa. Das Grundstück war von einem dunkelgrünen, halbhohen Stahlzaun umgeben. Über die Zufahrt fuhr man direkt hinunter in die Garage unter dem Haus, wo unsere drei Autos parkten. Mein Vater ließ sich und uns aber fast immer mit dem Mercedes chauffieren, an dem vorn die hellblaue Flagge mit dem weißen Stern im Fahrtwind wehte, die uns als somalische Diplomaten auswies. Das Haus war umgeben von einem großen Rasen und prächtigen Bäumen, dahinter befand sich ein kleiner Hang, steil und lang genug, um im Winter wunderbar mit dem Schlitten runterzurutschen. Aber es war auch ein schöner Platz, um sich im Sommer aufzuhalten, wenn überall Blumen in leuchtenden Farben blühten. Es war der Lieblingsort unserer Nanny. Sie hieß Hilde und trug immer einen blauen Kittel. Sie war etwa Ende 30, hatte rotbraunes, gewelltes, kurzes Haar und eine raue, derbe Art, an die ich mich nie so richtig gewöhnen konnte.
    »Mädchen«, rief sie mich, statt mich bei meinem Namen zu nennen, »krümle nicht so mit dem Brot herum.« Wenn ich Hilde im ganzen Haus nicht fand,
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