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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Autoren: Khadra Sufi
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Kinder da waren, aber ich merkte auch, dass sie mich gar nicht beachteten. Sie sprachen nicht mit mir, ich hatte das Gefühl, einfach nicht dazuzugehören. Ich dachte, wenn ich ihnen vielleicht mehr Spielzeug schenken würde, würden sie mich mögen. Papa brachte sowieso immer so viel mit, also verteilte ich meine Spielsachen unter den Kindern.
    Das Tor zu unserem Garten war nie abgeschlossen. Einmal waren besonders viele Kinder im Hof. Ich kannte nur einen von ihnen, meinen Freund Marcel, der einen Block weiter wohnte. Die Kinder tobten und kreischten herum. Irgendwann kam unser Chauffeur Food Adde angerannt: »Was ist denn nur los? Was macht ihr alle hier? Woher kommen die ganzen Kinder?« Er schaute mich mit großen Augen an, aber ich hatte ja selbst irgendwann den Überblick verloren. Food Adde schickte sie nach Hause und als alle weg waren, war es plötzlich wieder still. Da merkte ich erst, wie laut es vorher gewesen war. Ich war traurig. Ich wollte zu den anderen Kindern gehören, aber nun waren alle weg.
    Mein einziger wirklicher Kindheitsfreund in dieser Zeit war Marcel. Oft trafen wir uns auf dem Spielplatz in unserer Straße. Er hatte kurzes braunes Haar, dünne Beine und trug meist Sandalen und kurze Hosen, weshalb seine Knie vom Spielen oft ganz rau waren. Er hatte noch drei jüngere Brüder, den Kleinsten fand ich total süß. Er hieß Micky und war ein richtiger Wonneproppen mit geröteten Hamsterbäckchen. Wenn er mich von unten mit seinen großen, treuen Augen anschaute, wollte ich ihn am liebsten umarmen und ihm einen dicken Schmatzer geben. Was mich
davon abhielt, war seine ständig laufende Nase. Der Rotz war an der Oberlippe verkrustet und es lief immer neuer nach.
    »Hey, Micky, komm mal her!«, rief Marcel, wenn er merkte, dass der Kleine versuchte, sich mit der Zunge die Nase abzuwischen. Dann nahm Marcel den Zipfel seines T-Shirts und wischte ihm das Gesicht sauber. Es gefiel mir, wie er sich um seinen jüngeren Bruder kümmerte, und auch deshalb mochte ich Marcel besonders gern. Ich hätte stundenlang mit ihm zusammen sein können, leider musste er immer zu ganz bestimmten Zeiten zu Hause sein.
    »Ich muss um zwölf zum Mittagessen«, verabschiedete er sich dann. Oder: »Ich muss um sechs zum Abendbrot.« Oder: »Ich muss los, das Sandmännchen kommt gleich.« Und egal, was für ein spannendes Spiel wir gerade spielten: Wenn es Zeit war, rannte er los. Ich blickte ihm dann hinterher und beneidete ihn darum, dass da jemand auf ihn wartete. Mich rief nie jemand zum Essen, ich ging nach dem Spielen einfach irgendwann nach Hause und kann mich nicht daran erinnern, dass wir jemals gemeinsam zu Hause gegessen hätten.
    Einmal spielten wir in Marcels Straße. Wir hockten über den schönen bunten Glasmurmeln, die ich mitgebracht hatte. Plötzlich hörten wir eine Glocke läuten und sahen auf. An einem Fenster im dritten Stock stand eine Frau mit langen braunen Haaren.
    »Mittagessen ist fertig!«
    »Ja, Mutti, ich komm hoch.« Marcel sprang auf und rannte los. Ich ärgerte mich, wie immer, wenn er mich plötzlich links liegen ließ, nachdem wir den ganzen Morgen miteinander gespielt hatten, und er war schon bis zum Eingang des Plattenbaus gelaufen, als seine Mutter noch mal rief.
    »Bring doch deine Freundin mit, Marcel!« Dann drehte sie sich zu mir und wischte sich ihre langen Haare aus dem Gesicht. »Magst du mit uns zu Mittag essen?« Ich sagte nichts und nickte nur.

    Schon oft hatte ich den Duft des leckeren Essens aus den Fenstern dieser Häuser gerochen und Marcel winkte mich zu sich. Ich sammelte meine Murmeln hastig ein und rannte zu ihm. Während er die Stufen aufstieg, drehte er sich ab und zu lächelnd zu mir um. Bisher hatten wir uns immer nur bei mir getroffen, er war wohl gespannt, wie es mir bei ihm gefallen würde. Micky öffnete uns angestrengt, weil der kleine Wonneproppen gerade mal an den Türgriff kam. Er strahlte uns mit seinen großen blaugrauen Augen an. Er sah heute besonders süß aus, weil er keinen angetrockneten Rotz unter der Nase hatte, doch bevor ich ihn in den Arm nehmen konnte, rannte er den Flur entlang zu seiner Mama. Er klammerte sich hinter ihr rechtes Bein, als sie im Türrahmen zur Küche stand. Langsam glitt mein Blick ihre kräftigen Beine empor. An ihren Schenkeln stockte ich. Ich wollte nicht weiter nach oben schauen, aber sie fing schon an, mit mir zu sprechen.
    »Na?!«, hörte ich ihre Stimme. Ich wollte ihr ins Gesicht sehen, aber mein Blick blieb
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