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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Autoren: Khadra Sufi
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daran erinnern, wie schwierig ich das fand, ich dachte, ich würde es nie lernen. Aber immer, wenn ich es nicht schaffte, kam sie zu mir und band mir den Schuh zu. Sie hat es mir immer wieder geduldig erklärt, bis ich es verstanden hatte. Als ich es dann endlich selbst konnte, bin ich mit meinem Schuh nachmittags durch unsere Villa gerannt und suchte jemanden, dem ich es vorführen konnte. Mama war die Einzige, die im Haus war. Sie saß allein auf der großen Eckcouch im Wohnzimmer und war in Gedanken versunken. Ich war so stolz auf das Erlernte und völlig aufgedreht, aber während ich es ihr zeigte, merkte ich, dass sie mich teilnahmslos ansah. »Vielleicht ist es doch nicht so etwas Besonderes, Schuhe binden zu können«, dachte ich damals. Erst Wochen später bekam ich
die Anerkennung, die ich mir erhofft hatte. »Khadra, kannst du mir bitte die Schuhe zumachen?«, fragte mich da Mama, die es selbst nie gelernt hatte. Aus diesem Grund trägt sie noch heute keine Schuhe mit Schnürsenkeln, sondern immer welche mit Klettverschluss.
    Mein Vater war geschäftlich viel unterwegs und eines Tages nahm er mich mit nach Moskau. Es war das kälteste Land, das ich jemals besucht hatte. Wir fuhren zum Roten Platz, auf dem Hunderte von Tauben waren. Dort konnte man Plastiktütchen mit Bohnen kaufen, um die Vögel zu füttern. Sie waren sehr gierig und ich zog meine Hand schnell weg, damit sie mich nicht in die Finger hackten. Ein Mann neben mir legte sich das Futter auf den Kopf und die Tauben pickten es von seiner Halbglatze. Das sah witzig aus, also schüttete ich mir eine Handvoll Bohnen aufs Haar, aber was dann passierte, fand ich zuerst gar nicht komisch. Die Tauben stürzten sich auf mich, rissen an meinen Haaren und hackten mir mit ihren spitzen Schnäbeln in die Kopfhaut. Ich warf die Tüte mit dem Futter hinter mich und rannte quer über den Platz ins nächste Gebäude. Mein Vater konnte sich nicht mehr halten vor Lachen, was mich zunächst ärgerte, aber dann steckte er mich doch damit an.
    Am letzten Abend vor unserem Rückflug nahm er mich mit in ein riesiges Einkaufszentrum. Ich durfte mir etwas aussuchen, und meine Wahl fiel auf einen schwarzen Motorradhelm: Er war viel zu groß für mich, und wir besaßen auch gar kein Motorrad, aber ich wollte ihn unbedingt haben. »Wenn du ihn willst, bekommst du ihn«, sagte Papa nur. Auf der Rückfahrt ins Hotel setzte er sich wie immer auf den Beifahrersitz. Ich setzte mich auf seinen Schoß, zog den Helm gleich über und tat so, als ob ich auf einem Motorrad säße. Als wir durch einen Tunnel fuhren und die Lichter sich auf meinem Helm spiegelten, kam ich mir vor wie David Hasselhoff als »Knight Rider« in seinem sprechenden Auto K. I. T. T.

So schön wie Mama
    Weil mein Vater so viel unterwegs war, fühlte sich meine Mutter oft allein. Sie ließ sich dann häufig vom Chauffeur nach Westberlin zum Einkaufen fahren. Dafür machte sie sich vorher besonders chic, was Stunden dauerte. Ich fuhr selten mit, weil Mama sich dann kaum mit mir beschäftigte und ich lieber bei meinem Papa war, wenn er denn da war. Nanna dagegen war Mamas größter Fan, auch beim »Ausgehen«. Sie hing schon an Mamas Rockzipfel, mit ihrer Barbie unterm Arm, wenn Mama in Richtung Auto ging. Sie wusste: Wenn sie mit ihr fährt, bekommt sie auch etwas gekauft. Mama kam stets mit Tüten voller schöner Kleider zurück, die sie gleich in ihren großen Schrank hing. Sie besaß unzählige Kleider: bodenlange, blaue, grüne, rote, bunte, mit Gold oder Strass verzierte … Der Schrank im Schlafzimmer meiner Eltern reichte über eine ganze Wand und war mit Spiegeln versehen.
    Mama verwandelte sich in eine Diva, wenn sie mit Papa auf Empfänge ging. Oft bin ich zu ihrem Schrank geschlichen, um die Kleider anzuprobieren. Mir war klar, dass sie mir noch viel zu groß waren, aber ich bestaunte mich im Spiegel und konnte es kaum erwarten, bis sie mir endlich passen würden und ich auch so schön sein würde wie Mama.
    Neben Mamas Bett stand ein Schminktisch mit zwei Schubladen und einem großen, runden Spiegel. Ich beobachtete sie, wenn sie davorsaß und sich mit einem Kajalstift ihre Augenlider nachzog, sodass ihre dunklen Augen noch ausdrucksvoller wirkten. Dann strich sie ihre vollen Lippen mit einem Lippenstift nach und presste sie zusammen. Sie hatte eine sehr helle Haut, feine, schlanke Handgelenke und schöne lange Finger. Sie sah aus wie eine Prinzessin. Vielleicht liebte sie deshalb auch Lady Di. Im
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