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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Autoren: Khadra Sufi
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Karim und ich, und all der bürokratische Kram, der erledigt werden musste, lenkte uns ab: Wir mussten das Haus aufräumen, Rechnungen bezahlen, Konten auflösen und anderen Papierkram erledigen. Wir versprachen uns, mehr füreinander da zu sein. Aber schon als ich abreiste, wusste ich bereits, dass vieles von dem, was mein Vater bisher getan hatte, an mir hängen bleiben würde. Zu Hause angekommen, merkte ich, wie müde ich von den letzten Tagen war, und nahm eine der Schlaftabletten, die mir Rita vorm Abflug gegeben hatte. Ich schlief von mittags bis zum nächsten Morgen.
    Sascha versuchte in den folgenden Tagen und Wochen mir über meine Trauer hinwegzuhelfen, aber ich zog mich in mich selbst zurück, weil ich mir über vieles klar werden wollte. Ein neuer Lebensabschnitt würde beginnen, und für mich würde nichts mehr so sein, wie es einmal war. Ich erinnerte mich daran, wie meine Familie vor acht Jahren nach England gegangen war und ich lernen musste, allein zurechtzukommen. Ich hatte es damals geschafft - und ich würde es wieder schaffen, dass spürte ich. Ich durfte nur nicht den ganzen Schmerz die Oberhand gewinnen lassen und zusammenbrechen. Denn dann wären die letzten Jahre,
in denen ich mir ein normales Leben aufgebaut hatte, völlig vergeblich gewesen. Nein, ich musste stark sein und nach vorn blicken, auch für meine Mutter und meine Geschwister.

14.
    AUS DEM SCHATTEN ENTSPRINGT EIN LICHT
    Es gab eine Sache, die mir in all den Jahren sehr wichtig gewesen war: Ich wollte wieder eine Identität haben, eine Staatsangehörigkeit, die in meinem Pass anstelle von staatenlos stehen sollte. Es ging mir nicht darum, kein Visum mehr beantragen zu müssen oder bei der Grenzkontrolle schneller durchgewinkt zu werden. Ich wollte mich zugehörig fühlen. Ich wusste zwar, woher ich kam, ich kannte meine Wurzeln und wollte sie auch nicht leugnen, aber von meinem Land war seit dem Bürgerkrieg außer Trümmern, Leid und Hoffnungslosigkeit für mich nichts Schönes geblieben, worauf ich hätte stolz sein können. Ich fand es traurig, denn ich spürte, wie wichtig eine enge Bindung zu meiner Heimat für mich hätte sein können. Ich hatte die meisten Jahre meines Lebens in Deutschland verbracht, erst im Osten, dann im vereinigten Deutschland, ich erlebte hier gute und auch schlechte Zeiten. Deutschland war mein Zuhause geworden. Hier wollte ich bleiben. Und ich wollte einen Nachweis, dass ich hierher gehörte, etwas, das ich vorzeigen konnte, einen deutschen Pass. Ich reichte meinen Antrag, meine Einkommensnachweise und ein schönes Foto von mir ein und beantragte ein Stück Deutschland auf Papier. Kurz darauf durfte ich mein Geschenk abholen - eine neue Identität.
    Es dauerte eine Zeit lang, bis ich wieder in Saschas Restaurant aushalf und unter Menschen ging, aber irgendwann merkte ich,
dass ich wieder unter die Leute musste, und es tat mir gut. Kurz darauf bekam ich den Anruf von dem Reisesender, bei dem ich zum Casting gewesen war. Sie wollten mich als Moderatorin! Am Tag meiner ersten Live-Sendung nahm ich mir noch einige Minuten Zeit nur für mich, bevor es losging. Gedanklich wollte ich den Ablauf der Sendung durchgehen und versuchte, meine Nervosität unter Kontrolle zu bringen. Wenn Papa mich jetzt nur hätte sehen können!
    Aber auf dem Weg ins Studio bekam ich plötzlich einen Heulkrampf, es war in den letzten Monaten alles zu viel für mich gewesen. Ich rannte zur Toilette und hoffte, dass es bald wieder vorbeigehen würde, und zum Glück beruhigte ich mich noch rechtzeitig. In den ersten Sekunden, nachdem mich mein Kollege anmoderiert hatte, zappelte ich noch ein wenig herum, trat von einem Bein auf das andere, aber das legte sich bald, und bevor ich mich versah, moderierte ich durch die ganze Sendung und merkte gar nicht, wie schnell die Zeit verflog.
    Ich erntete einen Riesenapplaus aus der Regie und von den Kollegen für meine Premiere und war stolz wie Oskar. Es sollte der erste Schritt in meinen neuen Beruf sein, denn von diesem Tag an konnte ich mir nicht mehr vorstellen, jemals etwas anderes zu tun, und das tat ich auch nicht.
    Seitdem moderiere ich für viele internationale Firmen Galas und Events, interviewe als Journalistin Stars aus Hollywood und aus der Musikbranche und bin in verschiedenen Formaten als Moderatorin tätig.
     
    Ich habe gesehen, was ich alles schaffen kann, und ich habe mir noch viel vorgenommen, was ich schaffen will. Wenn ich heute daran denke, wie hoffnungslos mein Leben
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