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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Autoren: Khadra Sufi
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Arbeit gar nicht mehr hinterher.

    Am Nachmittag wollte ich gerade rausgehen, um irgendetwas einzukaufen, da fiel mir auf der Straße ein weißes Auto auf, in dem vorn zwei Männer saßen, die zu mir herübersahen. Und als ich genauer hinsah, erkannte ich den einen von ihnen: Jassar. Ich war so wütend, dass er sich zur Beerdigung meines Vaters traute, dass ich zunächst gar nicht bemerkte, wer da direkt vor mir die kleine Treppe heraufkam: mein Bruder Farid! 18 Jahre lang hatten wir uns nicht mehr gesehen, und ich fiel ihm in die Arme. Er hatte uns ja schon damals, lange vor dem Krieg, in Somalia verlassen, um nach Kanada zu gehen, und von all den Grausamkeiten, die wir in den Jahren danach durchmachten, hatte er nichts mitbekommen. Vielleicht war Farid deshalb in der Trauer so positiv gestimmt, dass er uns allen in diesen Tagen die Kraft geben sollte, die wir zu verlieren drohten.
    Sie alle waren zum Begräbnis meines Vaters gekommen, an dem nur Männer teilnehmen durften. Während ich mit meiner Mutter, Chuchu und den anderen Frauen zu Hause bleiben musste, waren die Männer auf dem Friedhof, und meine Brüder Jamal, Farid und Karim trugen den Sarg zu Grabe. Erst am Nachmittag, als alles vorbei war, durften auch wir zum Friedhof. Karim fuhr uns hin. Das Einzige, was ich sah, war die aufgeschüttete Erde, unter der mein Vater liegen sollte, und sein Grabstein.

Distanz zu denen, die nicht sehen können, wer ich wirklich bin
    Am nächsten Tag leerte sich das Haus langsam, mittlerweile waren nur noch ein paar Verwandte da - und Jassar. Ich war ihm bisher aus dem Weg gegangen, was nicht schwierig war, da sich die Männer nur unten und die Frauen nur oben aufhielten. Jetzt stand ich oben im kleinen Flur und sah, wie er die Stufen heraufkam. Als er mich erblickte, blieb er mitten auf der Treppe stehen.
Ich sah zu ihm herunter, er sah zu mir hoch, wir sagten beide nichts, ein paar Sekunden lang.
    »Khadra, wie geht’s dir?«
    »Gut«, antwortete ich und sah ihm direkt in die Augen. Er wirkte verunsichert, so, als würde er am liebsten kehrtmachen und wieder nach unten gehen, aber er wich meinem Blick nur aus und blieb. Und meine Gedanken kreisten nur um ihn, während ich ihn ansah. Was hoffte er? Dass ich ihm vergeben würde? Dass ich ihn nicht drauf ansprechen würde? Dass ich so täte, als wäre nichts geschehen?
    »Was ist los?«, fragte er irgendwann, ohne mich anzusehen. Ich antwortete ihm nicht direkt, ich hatte gar kein Verlangen, ihm Antworten zu geben, ihm die Situation leichter zu machen. Was hätte ich ihm auch sagen sollen? »Vor dir steht die Frau, die all die Jahre damit fertig werden musste, um nicht daran zu zerbrechen … die nie verstanden hat, warum du das getan hast, und erst mal lernen musste, sich selbst zu lieben. Die mit ihren Liebsten nicht darüber sprechen konnte, weil sie ihnen die Last nicht aufbürden wollte. Und die deinen Anblick nun auch noch in der Trauer ertragen muss.« Sollte ich ihm das sagen? Vielleicht schon. Aber ich tat es nicht.
    »Nichts ist los. Gar nichts.« Ich drehte mich um und ging. Jassar verschwand kurze Zeit später und ich habe ihn nie wieder gesehen.
    Am Abend ging ich vor die Tür, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Auf der Straße unterhielten sich meine Onkel Asrah und Kuat und ich gesellte mich zu ihnen, denn wir hatten noch keine Gelegenheit gehabt, uns zu unterhalten. Kuat begann mir Fragen zu stellen und am liebsten wäre ich wieder gegangen. »Was treibst du in Deutschland? Du solltest deine Affäre mit diesem Mann beenden und heiraten!« So ging es immer weiter. Für ihn war meine Beziehung mit Sascha nur eine Affäre, weil ich nicht mit ihm verheiratet war. Ich fragte mich auch, wie ein
Mann, den ich in meinem Leben nur wenige Male gesehen hatte, dazu kam, mir mit seinen Fragen versteckt Ratschläge zu erteilen und meine Art zu leben zu verurteilen! Ihn ging das alles überhaupt nichts an, aber ich hätte es geschluckt und wäre gegangen, wenn er nicht noch nachgelegt hätte.
    »Ich hab mich bisher wegen deines Vaters zurückgehalten, aber jetzt muss ich dir mal meine Meinung sagen«, fuhr er mich an. Das war zu viel.
    »Du hast mir gar nichts zu sagen! Meine ›Affäre‹ ist der einzige Mensch, der mich aus der Scheiße geholt hat und immer für mich da war, im Gegensatz zu irgendwelchen Onkeln, die sich jetzt hier aufspielen!«, brüllte ich ihn an. Dann rannte ich fort.
    In den folgenden Tagen waren wir nur noch unter uns, Mama, Chuchu, Jamal,
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