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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Autoren: Khadra Sufi
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los?!«, brüllte sie ins Telefon und begann bereits zu weinen. »Papa atmet nicht mehr«, sagte ich nur. Auch ich konnte nicht aussprechen, dass er tot war. Dann brach Nanna zusammen, und ihr Mann meinte, dass er sich um sie kümmern würde.
    Am Flughafen drückte mir Rita zum Abschied eine kleine Tüte in die Hand, in der Beruhigungstabletten waren: »Bleib stark.«
    »Ja, das werde ich.« Ich konnte nicht viel sagen und als ich mit meinem kleinen Rollkoffer über das Flughafengelände rannte, spürte ich, wie die Menschen mich anstarrten, weil mein Gesicht vom Heulen verquollen und die Schminke völlig verschmiert war.

Trauer und Schmerz
    Im Flieger versuchte ich mich darauf vorzubereiten, was mir bevorstand, ohne wirklich zu wissen, was mich erwarten würde. Ich wusste nur eins: Ich brauche jetzt meine ganze Kraft, um für meine Mutter und meine Geschwister da zu sein. Vor allem Chuchu würde mich jetzt mehr brauchen denn je. Sie war es auch, die mich zusammen mit Zuri, einer Bekannten der Familie, am Flughafen empfing. Ich nahm sie in den Arm und wiegte sie hin und her. Chuchu drückte ihr Gesicht in meinen Pullover und weinte in die Wolle.
    »Lass es raus, lass es ruhig raus«, flüsterte ich ihr ins Ohr, während ich sie schützend umarmte. Von diesem Moment an vergoss ich keine Träne mehr, ich fing wieder an zu funktionieren, und das konnte ich nur, wenn ich selbst emotionslos war, meine eigenen Gefühle einfach abschaltete. Chuchu hatte in den letzten Stunden das Schrecklichste erlebt, das ich mir vorstellen konnte. Papa
war zu Hause zusammengebrochen und hatte auf dem Boden liegend nach Luft geschnappt. Sie hatte ihm ein Kissen unter den Kopf gelegt und den Notarzt gerufen. Dann hatte er aufgehört zu atmen. Alle Wiederbelebungsversuche des Arztes waren erfolglos geblieben. Jetzt stand sie immer noch unter Schock, und ich wollte ihr alles so einfach wie möglich machen. Sie brauchte Schutz, etwas, was ihr ein Gefühl der Sicherheit gab, ich musste also Ruhe bewahren, wenn sie mich hilfesuchend ansah, ich musste so tun, als ob ich alles unter Kontrolle hätte.
    Nach einer Weile gingen wir zum Auto, ich wollte Chuchu nicht ausfragen und noch mehr aufwühlen, deshalb sprach ich mit Zuri: »Wo liegt er?«
    »In einem Leichensaal im Krankenhaus.« - »Ich möchte dorthin fahren.«
    »Khadra, lass uns erst mal zu mir nach Hause fahren. Dort gebe ich dir etwas zum Anziehen und dann fahren wir zu deiner Mutter.«
    »Was zum Anziehen?!« Ich sah sie entgeistert an. »Ja. Euer Haus ist voll mit Menschen, die dort beten, du musst dich verschleiern, ich gebe dir etwas von mir.« Als ich das hörte, wurde ich aggressiv. Fiel ihr in solch einem Moment nichts Wichtigeres ein, als dass ich mich zu verschleiern hatte?! Aber natürlich hatte Zuri sich nichts Böses dabei gedacht, sie wollte nur auf unsere Sitten und Bräuche Rücksicht nehmen, doch das verstand ich erst später.
    »Ich brauche nichts zum Anziehen von dir! Ich will jetzt meinen Vater sehen!«, giftete ich sie an, und wir fuhren ins Krankenhaus, aber sie ließen mich nicht zu ihm. Es war schon nach 21 Uhr und nur noch das Personal der Spätschicht war da. »Wir müssen Ihren Vater erst auf einer Liege in Laken betten, damit Sie sich würdig verabschieden können, und das geht erst morgen früh«, erklärte uns der Pfleger sehr einfühlsam, sonst hätte er mich nicht davon abhalten können, meinen Vater zu sehen. Als ich
mit Chuchu und Zuri zum Haus meiner Eltern fuhr, konnte ich es einfach nicht glauben, dass er hier nicht gleich in die Hände klatschen würde, um mich zu empfangen, wie er es immer getan hatte. »Njuuuunjaaaa!« Er war immer so glücklich, wenn ich zu Besuch kam, und wir hatten jede Sekunde miteinander genossen. Und jetzt sollte er einfach nicht mehr da sein.
    Schon draußen vorm Haus hörte ich laute Stimmen und als ich hineinkam, sah ich im Flur vor der Treppe Dutzende paar Schuhe, die, wie bei Somalis üblich, vorm Eintreten ausgezogen worden waren. Ich blickte ins Wohnzimmer, das direkt links neben dem Eingang war. Hier hatten sich die Männer versammelt. In dem Getümmel erkannte ich nur wenige Gesichter: Emrah, ein sehr enger Freund meines Vaters, Onkel Asrah, ein Bruder meiner Mutter, der schon seit 20 Jahren in London lebte, und Kuat, der einzige Bruder meines Vaters, den ich das letzte Mal in Ostberlin gesehen hatte, als er noch mit seiner deutschen Frau verheiratet war. Die beiden lebten mittlerweile getrennt.
    Ich ging nicht
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