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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Autoren: Khadra Sufi
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bleiben, in mich gekehrt einfach nur zu trauern.
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wusste ich, dass mir das Schlimmste noch bevorstand. Zuri holte mich ab. Als ich meinen Bruder Jamal im Wohnzimmer sitzen sah, bat ich ihn, mich zum Leichensaal zu begleiten. Als wir im Krankenhaus ankamen, führte uns eine Schwester in den Hinterhof und blieb vor einem Häuschen stehen, zu dessen Eingang eine kleine Treppe hinaufführte. Ich bat Jamal und Zuri erst einmal nicht mit hinein zu kommen, weil ich ein paar Minuten allein sein wollte, allein mit ihm. Ich ging die Stufen hoch und blickte durch die Tür in den Raum. Ich konnte seine Füße sehen, die von einem weißen Laken
bedeckt waren, und traute mich nicht hinein, es war, als ob mich etwas zurückhielt. Es war die Macht der Wahrheit, die ich in diesem Augenblick so fürchtete, ich konnte mir nicht ausmalen, was mich da drin erwarten würde, wie dieser Anblick für mich sein würde, aber ich wusste, dass es das letzte Bild sein würde, das ich von ihm behalten würde. Ich kämpfte mit mir, versuchte stark zu sein, mir Mut zuzusprechen, um durch diese Tür zu gehen, aber dann bewegte ich mich keinen Millimeter. Es waren qualvolle Minuten voller Angst, Verzweiflung und Schmerz, es waren die schlimmsten Minuten meines Lebens.
    »Khadra, du musst da rein! Du musst dich von ihm verabschieden! Hab keine Angst, es ist doch dein Vater«, flüsterte Zuri mir zu. Ich wischte mir die Tränen von den Wangen, atmete tief ein, dann war ich bereit und schlich zu ihm. Er lag da, bis zum Hals zugedeckt, nur sein Gesicht war zu sehen, er sah aus, als würde er tief und fest schlafen, so friedlich, dass ich meine Furcht verlor. Ich legte vorsichtig meine Hand auf seine Stirn und spürte, wie kalt sie war. »Papa«, hauchte ich und weinte in mich hinein. Wie konnte ein so kostbarer Mensch nur von uns gehen? Es gab doch noch so viel, was ich ihm hätte sagen wollen, aber nicht mal hier sollte ein bisschen Zeit dafür sein. Tante Suna, Papas einzige Schwester, und ihre Töchter und Söhne betraten den Raum, weinten und kreischten, sodass ich es bald nicht mehr ertragen konnte und ging.

Schöne Erinnerungen geben uns Halt
    Zu Hause schloss ich mich wieder auf der Toilette ein. Ich wollte in mich hineinhören, aber ich spürte nichts, da war nur Leere und eine so überwältigende Gefühlsstarre, wie ich sie bisher noch nicht gekannt hatte. Nach einer Weile kam ich wieder heraus und suchte Chuchu, um mit ihr in das Zimmer zu flüchten, in das
man alle Möbel gestellt hatte. Alles, was man tragen konnte, war hier drin, Matratzen waren an die Wand gelehnt, Tische, Stühle, Fernseher, Teppiche, einfach alles. Es war so voll, dass wir die Tür kaum aufbekamen und uns mit aller Kraft hindurchzwängen mussten. Wir hockten uns auf den Boden, an eine Matratze gelehnt, ich nahm Chuchus Hand, wir starrten beide an die Decke. Sie war so tapfer gewesen, obwohl sie ihn um sein Leben kämpfen gesehen hatte, seine letzten Atemzüge miterleben musste.
    »Er ist hier und lächelt uns an, Chuchu«, sagte ich ihr und ich war sicher, dass auch sie ihn gerade spüren konnte, dass sie das gleiche Lächeln vor Augen hatte.
    »Ja, ich kann seine Stimme hören, wie er mich ruft: ›Chuchu, Chuchu‹«, machte sie ihn nach. »Ich weiß, die Bilder, die du gestern gesehen hast, waren schrecklich. Aber bitte lass sie nicht zu den einzigen Erinnerungen werden, die du an Papa hast. Denk an die schönen Momente mit ihm, davon gibt es so viele. Und wenn du mit ihm sprechen möchtest, dann horche tief in dich hinein, hör auf dein Herz, und dann wirst du ihn spüren. So wie jetzt. Er ist immer da.« Wir zogen uns in den folgenden Tagen immer wieder hierher zurück, wenn uns alles zu viel wurde.
    Im Haus lief ich mittlerweile wie alle Frauen mit einem schwarzen Schleier umher, den ich bei meiner Mutter im Schrank gefunden hatte und mit dem ich mich wohler fühlte, weil ich nicht mehr so auffiel. Vielleicht lag es aber auch daran, dass am zweiten Tag immer mehr Menschen aus allen Ecken des Landes nach London kamen, sogar mein Kindheitsfreund Abu reiste aus Manchester an, aber die meisten kannte ich nicht. Es gab viel zu tun, und alle Frauen halfen mit. Noch mehr Matten mussten her, die auf dem Boden ausgebreitet wurden, damit es genug Sitzgelegenheiten gab. Draußen wurde ein Zelt aufgebaut, das ein Verwandter mitgebracht hatte. Essen wurde gekocht, Tee und Kaffee gebrüht, Getränke wurden serviert, und wir kamen mit der
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