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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Autoren: Khadra Sufi
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hinein, denn eine Frau war in einem Raum mit Männern nicht erwünscht, erst recht nicht, wenn sie nicht gemäß den Sitten bedeckt war, weshalb ich auch begann, mich unwohl zu fühlen. Mir fielen die Worte von Zuri wieder ein, deren Rat ich besser befolgt hätte, denn in der engen Jeans und dem fliederfarbenen, gestreiften Strickpulli mit V-Ausschnitt, den ich heute morgen fürs Kellnern im Restaurant angezogen hatte, kam ich mir unpassend gekleidet vor. Es war mir auch bewusst, was sich hinter den Blicken der anderen verbarg. Für sie war ich die Sittenlose, die in einem fremden Land unverheiratet mit einem Ausländer zusammenlebte, weit weg von ihrer Familie, und ab und zu einmal zu Besuch kam. Sie hatten schon früher nicht mit ihrer Meinung hinterm Berg gehalten, sie betont beiläufig, aber bei jeder Gelegenheit geäußert. Doch ich hatte immer unter dem Schutz meines Vaters gestanden und ihm gegenüber hätten sie es nie gewagt zu widersprechen.

    Ich stieg die Treppe hoch und die vielen Stimmen wurden zu Lauten, Schluchzen, Kreischen, Jammern. Verteilt im Flur und in zwei kleinen Zimmern waren hier oben ausschließlich Frauen, die überall auf dem Boden saßen, denn damit alle Trauergäste Platz fanden, war das kleine Haus leer geräumt und alle Möbel in Chuchus Zimmer gezwängt worden. Aus dem Schlafzimmer meiner Eltern drang ein ohrenbetäubender Lärm und zwischen den ganzen knienden Frauen erkannte ich meine Cousine Seta, die in der Mitte des Zimmers stand. Dann begann sie zu zucken und mit den Armen wild in die Luft zu schlagen, ihr ganzer Körper vibrierte, sie verdrehte die Augen und stieß plötzlich Furcht einflößende Schreie aus. Sie beugte ihren Oberkörper vor und würgte, als ob sie sich übergeben müsste. Schließlich ließ sie sich auf den dunkelgrauen Teppich fallen und schrie nur noch wie besessen. Die Klageweiber um sie herum reckten währenddessen die Hände zur Decke, schluchzten, weinten und beteten. Ich hatte noch nie Menschen so exzessiv trauern sehen, mein Herz pochte vor Aufregung, und es dauerte einen Augenblick, bevor ich in der Ecke des Zimmers meine Mutter auf einer Matratze unter einer weißen Bettdecke versteckt liegen sah. Sie hatte den hilflosesten, ängstlichsten Blick, den ich mir vorstellen konnte, und erst als ich mich neben sie kniete, entspannte sie sich etwas. Ich legte mich zu ihr, und als ich sie umarmte, klammerte sie sich fest an mich. Zum ersten Mal spürte ich die körperliche Nähe der Frau, die mich zur Welt gebracht hatte, die Frau, die mir all die Jahre so fremd gewesen war, war mir in diesem Moment plötzlich so nah. Wir hatten beide den Menschen verloren, der uns am meisten bedeutet hatte. »Er ist von mir gegangen, er ist von mir gegangen …«, schluchzte sie mir immer wieder leise ins Ohr, als ich ihren Kopf auf meine Schulter gelegt hatte und ihr über die Stirn streichelte. Dann hatte sich auch Chuchu den Weg durch die Menge gebahnt und quetschte sich noch mit zu uns auf die Matratze. Ich spürte, dass sie und Mama auch nicht begreifen konnten, was gerade um
uns herum geschah, dass sie auch Angst hatten, dass sie Ruhe brauchten, um zu trauern, aber die Situation war außer Kontrolle geraten und es gab keine Rückzugsmöglichkeit, nur diese kleine Flucht in die Nähe zueinander, zu dritt auf dieser Matratze.
    Mein Puls schlug bis zum Anschlag, der Schmerz hämmerte in meinem Kopf und als es mir zu viel wurde, schloss ich mich im kleinen Toilettenraum ein, setzte mich auf das WC und starrte einfach auf den Boden. Innerlich brodelte ich, irgendetwas in mir drohte auszubrechen, etwas so Wuchtiges, dass ich es niemals hätte unter Kontrolle halten können, wenn es herausgekommen wäre, also holte ich tief Luft, ganz tief, immer wieder. Ich wollte weinen, ich spürte, dass ich weinen musste, aber ich schaffte es nicht, denn ich durfte jetzt nicht zusammenbrechen, es war nicht der richtige Moment dafür. Einige Stunden später legten wir uns erschöpft auf die Matten, die auf dem Boden ausgebreitet waren, um zu schlafen. Einige der Frauen schliefen schon, aber Mama konnte nicht einschlafen. Ich gab ihr eine der Tabletten, die Rita mir mitgegeben hatte, und nach ein paar Minuten schlief auch sie ein. Was um uns herum geschah, war mir fremd. So fremd wie diese Menschen, die ich nicht kannte, weil sie mich zuletzt als Baby gesehen hatten. Aber sie alle sollten sich in den nächsten Tagen in diesem kleinen Haus aufhalten und mir sollte keine Gelegenheit
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