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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Autoren: Khadra Sufi
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Erste, was mein Vater zu ihm sagte.
    Eines Tages kam ich von der Praxis nach Hause und schloss die Wohnung auf. Als ich den Lichtschalter am Eingang anknipste, dachte ich für einen kurzen Moment, ich hätte mich verlaufen. In meinem Zimmer standen ein Doppelbett, ein Regal und ein Nachttisch, auf dem sogar ein Fernseher war, auf dem Boden lag ein Teppich … Hinter mir ging Herr Reimann gerade vorbei und ich fragte ihn, ob er gesehen hätte, wer mein kleines Reich so verändert hatte. »Heute Vormittag war ein junger Mann da, der die Sachen reingetragen hat.« Sascha! Ich war überwältigt, noch nie hatte sich jemand so viel Mühe für mich gemacht.

Neue Ziele
    Um meine gestiegene Miete bezahlen zu können, musste ich wieder regelmäßig kellnern gehen. Das hatte ich, seitdem Sascha und ich zusammen waren, ein bisschen schleifen lassen, weil ich
die Wochenenden lieber mit ihm verbrachte. Ich begann also während der Woche nach meiner Arbeit in der Praxis wieder im Passion an der Kasse zu jobben, weshalb ich morgens öfter verschlief und zu spät in die Praxis kam. Irgendwann rief mich mein Chef in sein Büro. Wir hatten bisher ein gutes Verhältnis gehabt und ich erzählte ihm, dass ich auf meine Nebenjobs nicht verzichten könnte, ich würde mir aber alle Mühe geben, nicht mehr zu spät zu kommen. Er wollte wissen, warum ich überhaupt nebenbei noch arbeiten musste und ob ich denn nicht mehr bei meinen Eltern wohnen würde. Dann wollte er wissen, wo ich noch überall arbeiten würde und von wann bis wann und wie viel Geld ich monatlich zur Verfügung hätte. Als ich ihm all seine Fragen beantwortet hatte, fragte er mich noch, wie ich das alles hinbekommen hätte.
    »Ich find’s toll, dass Sie Ihre Ausbildung trotz aller Umstände durchziehen, und ich werde mir etwas einfallen lassen, damit Sie die Nebenjobs nicht mehr brauchen«, beendete er das Gespräch. Zwei Tage später erhöhte er mein Gehalt von 721 auf 1400 Mark im Monat. Irre! Endlich fing mein Leben an, sich positiver zu entwickeln. Ich musste nicht mehr so viel arbeiten, ich war bis über beide Ohren verliebt in jemanden, der mich auch über alles liebte, bei dem ich lernte zu vertrauen und mich geborgen fühlte, ich hatte eine kleine Wohnung mit neuen Möbeln, ich war motiviert, hatte Perspektiven, Träume, Ziele, die zwar noch undefiniert waren, aber tief in mir schlummerten.
    Das Einzige, was mich nach wie vor betrübte, war das schlechte Gewissen bei dem Gedanken, dass es mir besser ging als meiner Familie. Das brachte mich dazu, dass ich auch in dieser eigentlich schönen Phase Momente erlebte, in denen ich mein Glück und mein Leben gar nicht genießen konnte. Manchmal wachte ich nachts weinend auf, und Sascha musste mich trösten, weil mich das Gefühl nicht losließ, dass es mir nicht gut gehen durfte, wenn es meinen Lieben schlecht ging. Manchmal plagten mich die
Sorgen so sehr, dass Sascha mir sein Handy gab, damit ich sie anrufen konnte, um mich zu vergewissern, dass bei ihnen alles in Ordnung war.
    »Was ist denn los, Njunja? Du hörst dich so eigenartig an?«, fragte mich Papa einmal.
    »Nein, alles in Ordnung, meine Nase ist nur ein bisschen verstopft, ich habe Schnupfen«, log ich ihn an, denn ich konnte ihm die wahren Gründe meines Anrufs einfach nicht sagen. Dass ich litt, weil ich sie so vermisste, und mir große Sorgen machte, weil er wegen der Dialyse immer schwächer wurde. Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich gerade einen sehr schwachen Moment hatte, dass ich diese Momente so oft hatte, dass ich es nicht mehr ausgehalten hatte, bis ich ihre Stimmen hörte. Ich konnte einfach nicht schwach sein und damit aus der Rolle schlüpfen, die ich mir über all die Jahre angeeignet hatte.
    Obwohl mir in der Praxis als Arzthelferin alle Möglichkeiten offenstanden, erfüllte mich der Job nicht wirklich, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass das alles gewesen sein sollte. Als meine Ausbildung beendet war, arbeitete ich zwar weiterhin als Arzthelferin, aber ich wollte mich entwickeln und über mich hinauswachsen. Das Gefühl, etwas scheinbar Unmögliches erreichen zu können, hatte ich in meinem Leben oft erfahren - erfahren müssen, und es hatte mich geprägt. Aber diesmal wurde ich nicht durch mein Schicksal dazu gezwungen. Diesmal wollte ich mich aus eigenem Antrieb verändern und etwas bewältigen, was unmöglich schien. Eine innere Unruhe machte mich immer ungeduldiger, ich brauchte dringend eine Abwechslung und musste hier raus, raus
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