Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Russendisko

Titel: Russendisko
Autoren: Kaminer,Wladimir
Vom Netzwerk:
 
    WLADIMIR KAMINER
    Russendisko
     
    Russen in Berlin
     
    Im Sommer 1990 breitete sich in Moskau ein Gerücht aus: Honecker nimmt Juden aus der Sowjetunion auf, als eine Art Wiedergutmachung dafür, dass die DDR sich nie an den deutschen Zahlungen für Israel beteiligte. Laut offizieller ostdeutscher Propaganda lebten alle Alt-Nazis in Westdeutschland. Die vielen Händler, die jede Woche aus Moskau nach Westberlin und zurück flogen, um ihre ImportExportgeschäfte zu betreiben, brachten diese Nachricht in die Stadt. Es sprach sich schnell herum, alle wussten Bescheid, außer Honecker vielleicht. Normalerweise versuchten die meisten in der Sowjetunion ihre jüdischen Vorfahren zu verleugnen, nur mit einem sauberen Pass konnte man auf eine Karriere hoffen. Die Ursache dafür war nicht der Antisemitismus, sondern einfach die Tatsache, dass jeder mehr oder weniger verantwortungsvolle Posten mit einer Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei verbunden war. Und Juden hatte man ungern in der Partei. Das ganze sowjetische Volk marschierte im gleichen Rhythmus wie die Soldaten am Roten Platz - von einem Arbeitssieg zum nächsten, keiner konnte aussteigen. Es sei denn, man war Jude. Als solcher durfte man, rein theoretisch zumindest, nach Israel auswandern. Wenn das ein Jude machte, war es - fast - in Ordnung. Doch wenn ein Mitglied der Partei einen Ausreiseantrag stellte, standen die anderen Kommunisten aus seiner Einheit ziemlich dumm da.
    Mein Vater, zum Beispiel, kandidierte viermal für die Partei, und jedes Mal fiel er durch. Er war zehn Jahre lang stellvertretender Leiter der Abteilung Planungswesen in einem Kleinbetrieb und träumte davon, eines Tages Leiter zu werden. Dann hätte er insgesamt 35 Rubel mehr gekriegt. Aber einen
    parteilosen Leiter der Abteilung Planungswesen konnte sich der Direktor nur in seinen Albträumen vorstellen. Außerdem ging es schon deshalb nicht, weil der Leiter jeden Monat über seine Arbeit auf der Parteiversammlung im Bezirkskomitee berichten musste. Wie sollte er da überhaupt reinkommen - ohne Mitgliedsausweis? Mein Vater versuchte jedes Jahr erneut in die Partei einzutreten. Er trank mit den Aktivisten literweise Wodka, schwitzte sich mit ihnen in der Sauna zu Tode, aber alles war umsonst. Jedes Jahr scheiterte sein Vorhaben an demselben Felsen: »Wir schätzen dich sehr, Viktor, du bist für immer unser dickster Freund«, sagten die Aktivisten. »Wir hätten dich auch gerne in die Partei aufgenommen. Aber du weißt doch selbst, du bist Jude und kannst jederzeit nach Israel abhauen.« »Aber das werde ich doch nie tun«, erwiderte mein Vater. »Natürlich wirst du nicht abhauen, das wissen wir alle, aber rein theoretisch gesehen wäre es doch möglich? Stell dir mal vor, wie blöde wir dann schauen.« So blieb mein Vater für immer ein Kandidat. Die neuen Zeiten brachen an: Die Freikarte in die große weite Welt, die Einladung zu einem Neuanfang bestand nun darin, Jude zu sein. Die Juden, die früher an die Miliz Geld zahlten, um das Wort Jude aus ihrem Pass entfernen zu lassen, fingen an, für das Gegenteil Geld auszugeben. Alle Betriebe wünschten sich auf einmal einen jüdischen Direktor, nur er konnte auf der ganzen Welt Geschäfte machen. Viele Leute verschiedener Nationalität wollten plötzlich Jude werden und nach Amerika, Kanada oder Österreich auswandern. Ostdeutschland kam etwas später dazu und war so etwas wie ein Geheimtipp.
    Ich bekam den Hinweis vom Onkel eines Freundes, der mit Kopiergeräten aus Westberlin handelte. Einmal besuchten wir ihn in seiner Wohnung, die wegen der baldigen Abreise der ganzen Familie nach Los Angeles schon leer geräumt war. Nur ein großer teurer Fernseher mit eingebautem Videorecorder
    stand noch mitten im Zimmer auf dem Boden. Der Onkel lag auf einer Matratze und sah sich Pornofilme an. »In Ostberlin nimmt Honecker Juden auf. Für mich ist es zu spät, die Richtung zu wechseln, ich habe schon alle meine Millionen nach Amerika abtransportiert«, sagte er zu uns. »Doch ihr seid jung, habt nichts, für euch ist Deutschland genau das Richtige, da wimmelt es nur so von Pennern. Sie haben dort ein stabiles soziales System. Ein paar Jungs mehr werden da nicht groß auffallen. «
    Es war eine spontane Entscheidung. Außerdem war die Emigration nach Deutschland viel leichter als nach Amerika: Die Fahrkarte kostete nur 96 Rubel, und für Ostberlin brauchte man kein Visum. Mein Freund Mischa und ich kamen im Sommer 1990 am Bahnhof
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher