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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Autoren: Khadra Sufi
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wusste ich, wo sie war. Sie hatte sich eine Matte auf den Hang gelegt und sonnte sich mit ihrer Tochter Sabrina, die ein bisschen älter war als ich und oft nach Schulschluss zu uns kam, um hier ihre Mutter zu besuchen.
    Auch der hintere Teil des Grundstücks war durch den Zaun vom Nachbargrundstück getrennt. Man konnte hinübersehen in diesen Garten. Unser Nachbar war ein kleiner Mann, der immer grüne Arbeitskleidung und eine Mütze trug. Oft habe ich ihn fleißig in seinem Garten arbeiten sehen, und obwohl wir sogar Gärtner hatten, war sein Garten viel schöner als unserer. Es standen viele Birnbäume darin, ganz nah am Zaun, und wenn ich mich unbeobachtet fühlte, kletterte ich auf den Zaun und pflückte mir die saftigsten Birnen ab. Natürlich hatte ich Angst, erwischt zu werden, denn der Nachbar guckte immer so grimmig und lächelte mich nie an.

    Von den anderen Deutschen war ich es gewohnt, dass sie immer ganz entzückt waren, wenn sie mich sahen: »Du süßes kleines Negerkind!«, riefen sie dann. Oder: »Oh, schau mal, wie süß! Und guck mal, die Haare! Darf ich da mal reingreifen …?« Dann strichen sie mir vorsichtig über das krause Haar. Sie waren ganz erstaunt, wie borstig es war.
    »Die Haare fühlen sich ja ganz fest an, wie harter Schaumstoff. Kann man die überhaupt kämmen?« Nein, konnte man nicht, zumindest nicht ohne dass es unerträglich ziepte. Für Aufsehen sorgte es auch, wenn Wassertropfen von unserem Afro einfach abperlten. Ich verstand die Verwunderung der Leute nicht, denn ich hatte nie das Gefühl, anders zu sein. Aber ich spürte, dass sie es nicht böse meinten. Obwohl wir gar nicht so dunkelhäutig waren, sah man uns unsere Wurzeln natürlich an. Unsere Vorfahren waren keine Afrikaner, sondern stammten von der arabischen Halbinsel aus dem Oman, nordöstlich von Somalia.
    Ich hatte jedenfalls geglaubt, dass wir unserem grimmigen Nachbarn vielleicht zu fremd und anders waren. An meinem fünften Geburtstag ging ich nachmittags in den Garten, als er außer Sichtweite war, und kletterte auf den Zaun, um mir eine Birne zu pflücken. Ich streckte meinen ganzen Körper und meine Hand aus, aber ich kam trotzdem nicht an die Birne, ein paar Zentimeter fehlten noch. Mittlerweile war ich fast mit den Zehenspitzen auf dem Zaun und musste aufpassen, nicht abzurutschen. Ich war so konzentriert, dass ich zu spät bemerkte, dass der Nachbar direkt auf mich zulief, und er schien mir noch grimmiger als sonst. Ich erstarrte: »Oh nein, jetzt versohlt der mir bestimmt den Hintern!« Ich blickte ihm direkt in seine kühlen, blauen Augen. Er verzog immer noch keine Miene und lief weiter auf mich zu. Eine Sekunde lang überlegte ich noch, ob ich einfach wegrennen sollte, aber irgendwie kam ich nicht weg, es war zu spät.
    Plötzlich packten mich seine kräftigen Hände unter meinen Armen. Ich war panisch vor Angst, konnte aber weder schreien
noch mich wehren. »Jetzt ist es vorbei! Der zieht mich rüber in seinen Garten und gräbt mir ein Loch, direkt neben den Birnbäumen!« Noch während ich das dachte, hob er mich mit einem Ruck hoch in die Luft:
    »Da oben, die sind reif, pflück dir eine, na los!«
    Ich konnte gar nichts sagen, schaute ihn nur mit großen Augen an, dann pflückte ich mir eine Birne, die grün, an einer Seite zartrot und ganz fest war, so wie ich sie liebte. Sicher setzte er mich wieder auf dem Boden ab - in unseren Garten, der Zaun trennte uns wieder.
    »Wenn du noch mal eine willst, dann ruf mich.«
    Er sprach sehr betont und fuchtelte unterstützend mit den Händen, als ob er glaubte, dass ich kein Deutsch sprechen könnte. Ich starrte ihn noch etwas verwirrt an, dann drehte er sich um und lief zurück in sein Haus.
    Wir hatten auch einen prächtigen Baum in unserem Garten, wenn auch keinen mit Obst. Als Jassar, ein sehr guter Freund unserer Familie, einmal zu Besuch war, ging er eines Morgens zu diesem Baum und suchte sich sorgfältig einen schmalen Ast aus, den er abbrach. Er kaute ein wenig an einem Ende des Astes herum, bis es sich öffnete und borstig wurde. Dann putzte er sich damit die Zähne, so wie es in Somalia üblich war.
    Als Mama das vom Fenster aus sah, fing sie an zu lachen. Ich hab sie nicht oft ausgelassen lachen sehen. Ich liebe ihr Lachen, es klingt so herzhaft und kräftig, tief und voll aus dem Bauch heraus. Wenn sie lacht, blitzt eine große Lücke zwischen ihren starken Schneidezähnen hervor, sie wirft den Kopf in den Nacken und klatscht in die Hände.
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