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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Autoren: Khadra Sufi
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Freudig erregt rannte sie barfuß auf ihren kleinen Füßen hinaus zum Baum, um sich auch einen Ast abzubrechen. Jassar suchte ihr einen passenden aus, dann standen sie beide auf dem Rasen, kauten auf ihren Ästen herum und stellten fest, dass es in Somalia Knospen, Wurzeln und Zweige gab, auf denen man besser herumkauen und sich so die Zähne putzen
konnte. Diese hier im Garten waren zu feucht und zerfielen auf der Zunge, die somalischen hingegen stammen vom Zahnbürstenbaum, der in Afrika und Indien vorkommt und dessen Äste viel trockener und deshalb fester sind.
    Ich kannte nur Zahnbürsten und wurde neugierig, wie so ein Ast wohl schmecken würde. Jassar brach mir ein kleines Stück ab, das ich in meinen Mund steckte und an dem ich zaghaft knabberte. Es schmeckte bitter und war zu hart für mich, denn ich hatte nicht so stabile Zähne wie meine Mutter. Sie konnte mit ihren Vorderzähnen den Kronkorken von einer Flasche schnippen, schneller als andere es mit dem Öffner konnten. Das hatte sie von meinem Opa geerbt.
    Jassar war der beste Freund meines Bruders Farid und ein enger Vertrauter unserer Familie. Ich liebte ihn sehr, weil er immer so witzig war und mich zum Lachen brachte. Außerdem verbrachte er seine Zeit lieber mit uns Kindern, alberte mit uns herum, statt mit den Erwachsenen steife Gespräche zu führen. Wenn er mit Mama oder Papa sprach, war er sehr vernünftig für einen jungen Mann, aber mit uns Kindern war auch Jassar Kind. Ich war deshalb sehr traurig, als sein Besuch in Ostberlin vorbei war und er wieder zurück nach Somalia ging.

Mein Start ins Leben
    Meine Geburt soll sehr schwierig gewesen sein, beinahe hätte ich es nicht geschafft und meine Mutter auch nicht. Ich war eine Spätgeburt, ich kam viel zu spät, so spät sogar, dass die Ärzte in der Klinik in Somalia nicht mehr wussten, wie sie mich auf die Welt holen sollten.
    »Ich wollte nicht raus, weil ich ahnte, was für ein Leben mich erwartet«, flachste ich mit meinem Halbbruder Karim, als der mir davon erzählte. Was im Krankenhaus fehlte, war ein Medikament,
das die Wehen einleiten konnte. Karim ist zwanzig Jahre älter als ich und der einzige Sohn, den mein Vater mit seiner ersten Frau hatte. Karim arbeitete damals als Referent im somalischen Konsulat in Hamburg, und über einen Freund bekam er die Medizin im dortigen Bundeswehrkrankenhaus, mit Lufthansa gelangte sie dann gerade noch rechtzeitig in die Klinik, erzählte man mir später.
    Dazu muss man aber wissen, dass Somalis, wenn sie Geschichten erzählen (und das tun sie gerne), diese ausschmücken und auch mal etwas hinzudichten. Die folgende Geschichte wurde vor allem von meiner Mutter und meinen Tanten erzählt: »Als Baby haben wir dich einmal nach dem Baden abgetrocknet und dann auf dem Wickeltisch am Fenster liegen lassen, weil wir das Fläschchen holen wollten. Als wir zurückkamen, saß ein Pavian, so eine riesige Affen-Mama, auf dem Fensterbrett und griff nach dir. Was haben wir geschrien, als sie mit dir davonrannte und wir sie quer durchs Dorf verfolgten, bis Frau Pavian dich endlich fallen ließ. Total verkratzt haben wir dich im Sand gefunden.« Und dann lachten sie laut.
    Ich hab diese Geschichten immer wieder gern gehört und tue es heute noch. Nachdenklich macht mich hingegen diese Story: Als Baby hatte ich Kindergelbsucht und es ging mir sehr schlecht. Frauke Obländer, die mit ihrem Mann Manfred später noch einmal mein Leben retten sollte, war bei uns in Mogadischu zu Besuch, sah im Flur die gestapelten Kartons mit Babynahrung und war entsetzt: »Ihr dürft Khadra auf keinen Fall mehr damit füttern! Dieses Zeug ist in Deutschland längst verboten, weil es viel zu viel Eiweiß enthält und Kindergelbsucht auslösen kann!«, ermahnte sie meine Eltern, mit denen die Obländers gut befreundet waren. »Mich wundert, dass die das noch nach Somalia verkaufen dürfen.«
    Ich war ein kleines Mädchen mit einem kurzen, pechschwarzen Afro, fast genauso dunklen, großen, runden Augen, Pausbäckchen
und vollen Lippen. Mein Mund wirkte noch größer, wenn ich Bonbons, Lollis oder Schokolade in ihn reinstopfte - was ich dauernd tat. Ich war ein Pummelchen mit dünnen Beinen und dickem Bauch, wie wir Kinder ihn alle hatten.
    Fremden gegenüber war ich schüchtern. Fühlte ich mich aber in Sicherheit innerhalb der Familie, war ich sehr neugierig und löcherte die Erwachsenen mit meinen Fragen: »Papa, warum gähnt man? Welche Sprache sprechen Vögel? Warum ist der Himmel
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