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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes
Autoren: Axel S. Meyer
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landen.
    Der Graf glotzte auf seine leere Hand, als könne er nicht begreifen, was soeben geschehen war. Dann drehte er langsam den Kopf nach hinten, und ein heiserer, gequälter Schrei entrang sich seiner Kehle.
    Der Rabe hielt das Pergament mit seinen Krallen fest und hackte mit dem Schnabel darauf ein. Die Fetzen wurden vom Wind ergriffen, tanzten wie Schneeflocken über der Kuppel und schwebten dann hinab in die Pfalanza.
    «Ich bin der König!», stieß der Graf aus. «Ich … bin der König!»
    Hakon schnellte vor, achtete nicht auf die wütenden Schmerzen in seiner linken Hand, presste die noch zu gebrauchenden Finger zusammen und rammte den Grafen mit der Faust. Blut spritzte auf. Durch den wuchtigen Schlag wurde der angeschnittene Mittelfinger abgerissen.
    Der Graf wankte. Im Hintergrund brüllte der König.
    Da erkannte Hakon seine letzte Möglichkeit, doch noch mit dem Leben davonzukommen. Er ergriff den Königssohn und trieb gleichzeitig den Grafen mit einem zweiten, kräftigen Stoß ins Fenster. Thankmar stürzte in den Schacht und verschwand in dem dunklen Schlund.
    Hakon beugte sich hinein und sah ihn fallen. Von den hohen Wänden hörte er einen langen Schrei widerhallen, der noch nachklang, als der Graf mit einem dumpfen Geräusch auf dem Altar aufschlug. Etwas Langes ragte aus seiner Brust hervor. Und als ein Sonnenstrahl durch eines der verglasten Fenster fiel, fing sich das Licht in der goldenen Lanzenspitze.

80.
    Er spürte nichts. Nichts.
    Sah nur Licht, hell und gleißend, durchzogen von einem goldenen Schimmer, der über ihm pulsierte.
    Im Himmel, dachte er, ich bin im Himmel. Gott hat mich erwählt.
    Der Schimmer schmolz zu einem goldenen Punkt zusammen. Die heilige Lanze.
    Er schmeckte Blut. Es quoll aus den Tiefen seines zerschmetterten Körpers in seine Mundhöhle und sickerte aus den Mundwinkeln. Es rann durch den Bart, an den Ohren vorbei und tropfte auf den Altar, wo es sich wieder mit dem Blut vereinigte, das aus der Wunde in seiner Brust floss.
    Der blutgetränkte Altar. Es endete, wie es begonnen hatte.
    Mühsam hob er die linke Hand auf seine Brust und legte sie um den Span. Ja, wie alles begonnen hatte.
    Die Augen fielen ihm zu. Nein! Noch nicht! Er zwang die Lider, sich wieder zu öffnen. Das Licht wurde schwächer. Konturen schälten sich aus der Helligkeit. Die Weite über ihm, der Umgang, das Kuppeldach.
    Er hörte Geräusche. Scharrende Füße, Stimmen. Als er den Kopf drehte, sah er etwas Funkelndes. Edelsteine.
    Die Hand ließ den Span frei, rutschte von der Brust und schob sich durch klebriges Blut. Die Finger streckten sich nach den Edelsteinen aus. Die Krone? War es wirklich die Krone, oder träumte er? Träumte er im Himmel, am Throne des Allmächtigen?
    Die Finger glitten an der Krone hinauf, strichen über Edelsteine. Er musste die Krone haben, sie auf sein Haupt setzen.
    Du musst dich krönen, befahl er sich. Dich krönen, vor Gott. Vor dem Volk.
    Da waren wieder die Stimmen, gedämpfte Stimmen, wie ein böses Raubtier, das schwer atmete. Das ihn umkreiste. Lauernd.
    Er sah zwei Gestalten an den Altar treten. Ein Mann und eine Frau, seine Königin. Die Zwillinge. Die Brut der Seherin.
    Die Hand erstarrte auf der Krone.
    Die Zwillinge hielten einander an den Händen. Sie beobachteten ihn. Die Frau trug das Kleid, das er gekauft hatte, feinster Stoff. Wie gemacht für eine Königin für eine Nacht, zart und zerbrechlich wie die Flügel eines Schmetterlings.
    Hinter den Zwillingen erhob sich die Gestalt eines Mannes. Ein Mönch mit einem riesigen, kantigen Schädel, aus dem ihn ein irrer, starrender Blick traf.
    Und dann sah er all die anderen Menschen. Sie waren überall, umringten den Altar, drängten sich auf dem Umgang. Gesichter, versteinerte Gesichter. Sie waren gekommen, um ihrem neuen König zu huldigen, und er würde sie nicht enttäuschen.
    Er befahl seiner Hand, die Krone heranzuziehen. Der Arm bewegte sich. Die Krone kam ruckend durch das Blut näher.
    Ein anderer Mann trat neben die Zwillinge. Der Normanne mit den schwarzen Haaren, der dunkle Krieger. Auf seiner Schulter saß der verdammte Vogel. Der Krieger atmete schnell. Wahrscheinlich war er gerannt, weil auch er ihn sehen wollte – ihn, den König.
    Thankmars Lippen öffneten sich, und begleitet von einem Schwall Blut flüsterte er: «Ich bin der …»
    Seine Worte wurden von anderen Stimmen übertönt, hell und klar. Schön, so schön. Sie sangen. Die Zwillinge sangen.
    Dämonen sollen dich
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