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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes
Autoren: Axel S. Meyer
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entdeckte er ein hohes Fenster.
    Er trat an das Fenster. Das Bild, das sich ihm dahinter bot, war so aberwitzig, so unfassbar, dass er für einen Augenblick glaubte, sein erschöpfter Geist spiele ihm einen Streich.
    Unterhalb des Fensters führte ein schmaler Dachfirst zur Kirchenkuppel. Auf beiden Seiten des Dachs ging es steil in die Tiefe. Der First war so lang wie zwei Ruder und nicht breiter als eine ausgestreckte Männerhand. Auf diesem Grat balancierte der Graf und trieb seine Geisel vor sich her in Richtung Kuppel. Sie hatten etwa die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht. Ein falscher Tritt, eine unbedachte Bewegung, und beide würden in den sicheren Tod stürzen.
    Aus dem Glockenturm wurden Stimmen laut. Gleich würden die Soldaten oben sein, und es war anzunehmen, dass sie Hakon töteten.
    Er musste eine Entscheidung treffen.
    Vielleicht gelang es ihm, die Soldaten zu überzeugen, dass er der Feind des Grafen war. War die blutende Hand nicht Beweis genug? Vielleicht ließen sie ihn am Leben. Das war eine verlockende Aussicht. Leben.
    Er dachte an Malinas Frage, die er nicht beantwortet hatte.
    Werden wir uns wiedersehen?
    Er dachte an Eirik, seinen kleinen Jungen, an Bergljot und die anderen Menschen von Hladir. Sie warteten auf ihn. Vertrauten auf ihn. Hofften auf ihn. Als Vater, als Sohn, als Jarl.
    War es die richtige Entscheidung, den Mörder in den Tod laufen zu lassen, um das eigene Leben zu retten? Der Graf hatte sich in eine vollkommen ausweglose Situation gebracht. Selbst wenn er das gegenüberliegende Fenster erreichte, bevor er vom Dach stürzte, so war er doch von jedem Fluchtweg abgeschnitten. Hakon war in der Kirche gewesen und hatte gesehen, dass es unter dem Kuppeldach keinen Gang oder etwas Ähnliches gab. Da war nur Tiefe.
    War es falsch, Thoras Mörder seinem Schicksal zu überlassen? Ihn den letzten Schritt selbst wählen zu lassen, anstatt das zu vollenden, was er geschworen hatte?
    Was war falsch, was war richtig?
    Die Stimmen hinter ihm waren nun sehr nah. Vor ihm heulte der Wind über die Dächer.
    Das Schwert fiel zu Boden. Hakon zog das Messer aus dem Gürtel und nahm den Griff zwischen die Zähne.
    Eine falsche Entscheidung kann niemals richtig sein, dachte er.
    Seine linke Hand hinterließ einen blutigen Abdruck auf der Wand neben dem Fenster.

79.
    Thankmar schob den Knaben vor sich her über den First, erreichte das andere Fenster und befahl ihm, sich in den Schacht zu setzen. Er hatte das schier Unmögliche geschafft, für ihn ein weiterer Beweis, dass er unbesiegbar war. Nichts und niemand konnte ihn aufhalten. Kein Heer der Welt. Kein König. Kein Fluch.
    Er war der Sohn Thankmars des Älteren, und in seinen Adern pulsierte das Blut eines Herrschers. Er hatte diesen Weg gewählt, hatte ihn wählen müssen, und es war der richtige Weg. Der einzige Weg. Es gab nur diese eine Möglichkeit, das zu vollenden, wofür er bestimmt war.
    Wind rauschte in seinen Ohren. Er wartete, bis sich sein Herzschlag beruhigte. Dann drehte er sich zum Glockenturm um, in dem er jeden Moment mit dem König rechnete.
    Was er stattdessen sah, jagte ihm einen solchen Schrecken ein, dass er beinahe den Halt verloren hätte.
    «Gibst du niemals auf?», brüllte er in den Wind.
    Der Normanne blieb auf dem First stehen. Er war keine fünf Schritt entfernt und sah schrecklich aus. Eine Ausgeburt der Hölle. Zwischen seinen Zähnen hielt er das Messer. Es schien, als wachse die Klinge wie eine stählerne Zunge aus seinem Mund. Die dunklen Augen funkelten, und der Wind wirbelte durch seine schwarzen Haare. Er hatte die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten. Von der linken Hand tropfte Blut.
    «Verschwinde!», brüllte Thankmar. «Du wirst sterben!»
    Er atmete tief durch. Musste sich auf das Wesentliche konzentrieren, nicht auf den Normannen. Dieses bedeutungslose, unwichtige Nichts. Er konnte seinen Plan nicht durchkreuzen. Niemand konnte das.
    «Was verlangt Ihr für das Leben des Königs?», hörte Thankmar eine Stimme rufen.
    Er schaute zum Glockenturm. Im Fenster war ein Gesicht aufgetaucht. Es war das breite, faltige Gesicht mit dem grauen Bart und den schmalen Augen des Königs. Der König starrte zum Normannen, dann wieder zurück zu Thankmar.
    «Was ich für Euer Leben verlange, Onkel?», erwiderte er.
    «Für das Leben Eurer Geisel!»
    «Dieser Jüngling hier? Das ist kein König! Ebenso wenig, wie Ihr einer seid.»
    Das Gesicht verschwand und kam kurz darauf zurück.
    «Es war
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