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Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen
Autoren: Val McDermid
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nicht gefaßt hätten, hätte ich mich von Ihnen mal zum Dinner einladen lassen, um ihn mir näher anzusehen.«
    Carol schüttelte den Kopf. »Verstehen Sie jetzt, daß ich recht mit der Aussage hatte, ich sei schwer von Begriff? Ich hatte zu denselben Informationen wie Sie Zugang, aber daß Michael in Frage kommen könnte, daran habe ich nicht eine Sekunde gedacht.«
    »Das ist verständlich. Sie kennen ihn gut genug, um zu wissen, daß er kein Psychopath ist.«
    Carol zuckte mit den Schultern. »Ist das wirklich so? Es wäre nicht das erstemal, daß ein nahes Familienmitglied, sogar eine Ehefrau, sich irrt.«
    »Normalerweise machen sie sich selbst etwas vor, oder aber sie sind emotional instabil und in irgendeiner Art von dem Mörder abhängig. Keines von beiden würde in diesem Fall zutreffen.« Er lächelte müde. »Doch wie dem auch sei, erzählen Sie mir jetzt, was Michael Ihnen ›verklickert‹ hat.«
    »Der Computer war eine wahre Goldgrube. Sie hat in einer Spezialdatei Tagebuch über das Anpirschen an die Männer und über die Morde geführt. Sie schreibt darin sogar, sie möchte, daß das Tagebuch nach ihrem Tod veröffentlicht wird. Stellen Sie sich das mal vor!«
    »Ja, das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Tony. »Erinnern Sie mich daran. daß ich Ihnen einmal einige der wissenschaftlichen Arbeiten gebe, die ich zum Thema ›Serienmörder‹ gesammelt habe.«
    Carol ergriff ein Schauder. »Danke, lieber nicht. Ich habe Ihnen einen Ausdruck des Tagebuchs mitgebracht. Ich dachte, es würde Sie interessieren.« Sie zeigte auf den Umschlag. »Er ist da drin. Und wie Sie vermutet hatten, hat sie die Morde auf Videos aufgezeichnet und sie entsprechend meiner Annahme in ihren Computer importiert und die Bilder manipuliert, um ihre Phantasien am Leben zu erhalten. Es ist ganz entsetzlich, Tony, viel schlimmer als jeder Alptraum.«
    Tony nickte. »Ich will nicht sagen, daß man sich daran gewöhnen kann, denn an solche Dinge kann man sich einfach nicht gewöhnen, aber man kommt in ein Stadium, in dem man sie zu verdrängen und so fest einzusperren vermag, daß sie nicht unerwartet wieder herausschlüpfen und das Bewußtsein überfallen können.«
    »Ist das wahr?«
    »Ja, laut der Theorie jedenfalls. Fragen Sie mich in ein paar Wochen noch mal. Hat sie sich dazu geäußert, nach welchen Kriterien sie ihre Opfer ausgesucht hat?«
    »Nur verdammt wenig«, antwortete Carol. »Schon viele Monate, bevor sie sich das erste Opfer herauspickte, begann sie mit einem Selektionsprozeß. Sie arbeitete als Systemmanagerin bei der hiesigen Telefongesellschaft. Zunächst hatte sie einen Job bei einer kleinen privaten Telefongesellschaft in Seaford, bei der sie die nötige Erfahrung sammelte, um die Stelle in Bradfield zu bekommen. Sie war, wie man das nennt, ein Super-User, ein übergeordneter Anwender des Computersystems, hatte also Zugang zu sämtlichen gespeicherten Daten. Sie holte sich aus dem Computer der Gesellschaft alle privaten Telefonnummern von Männern, die im vergangenen Jahr regelmäßig Anrufe bei Telefonsex-Anbietern gemacht hatten.« Carol unterbrach sich, die naheliegende Frage im Raum stehenlassend.
    »Es war eine wissenschaftliche Untersuchung«, erklärte Tony.
    »Ich habe eine Arbeit über die Rolle von Telefonsex-Gesprächen auf die Entwicklung der Phantasievorstellungen von Serienmördern veröffentlicht. Man hätte Angelica sagen sollen, sie dürfe, was mich angeht, keine falschen Schlüsse ziehen.«
    Carol legte seine Worte als versteckten Vorwurf aus, reagierte aber nicht darauf, sondern fuhr fort: »Diese Telefonnummern stellte sie dann dem Anschriftenverzeichnis gegenüber, und auf diese Weise kam sie zu den Adressen von Männern, die allein lebten. Dann hat sie die Männer beobachtet, um ihre Erkenntnisse zu überprüfen und weitere zu gewinnen. Sie hatte eine klare Vorstellung vom Aussehen des Mannes, den sie suchte, und es mußte außerdem jemand sein, der ein eigenes Haus hatte, ein angemessenes Einkommen und gute Karriereaussichten. Man kann es kaum glauben!«
    »Doch, es paßt genau«, entgegnete Tony. »Im Grunde wollte sie die Männer nicht töten, sie wollte sie lieben. Aber sie machten sie zur Mörderin, indem sie sie betrogen. Sie hatte einzig Sehnsucht nach einem Mann, der sie liebte und mit ihr zusammenlebte.«
    Diese Sehnsucht haben wir doch alle, dachte Carol, sprach es aber nicht aus. »Wie auch immer, wenn sie sich für den passenden Kandidaten entschieden hatte, ebnete sie
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