Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen
Autoren: Val McDermid
Vom Netzwerk:
übernachten. Sie hat das ganze Finale verpaßt. Es gibt in der
Sentinel Times
von heute ein Dutzend Verfasserangaben zum Thema Überführung des Serienmörders, aber ihre ist nicht dabei!«
    Tony legte sich zurück und blickte zur Decke. Die Risse übertünchen, das war es, was sie da machten. Er hatte Carol im Verdacht, daß sie das ebensogut wußte wie er, und er war ihr nicht böse für ihre Bemühungen. Aber er hatte zunächst einmal genug von alldem. Er schloß die Augen und seufzte.
    »O Gott, tut mir leid«, sagte Carol und sprang auf. »Es war gedankenlos von mir. Sie müssen ja immer noch völlig erschöpft sein. Ich verschwinde sofort. Dieses Zeug hier lasse ich Ihnen da. Lesen Sie es, wenn Ihnen danach ist. Ich könnte morgen wieder vorbeikommen, wenn Sie möchten …«
    »Ich würde mich freuen«, sagte Tony matt. »Die Müdigkeit überfällt mich manchmal in Wellen.«
    Er hörte ihre Schritte und das Klicken der Tür, als sie sie aufmachte. »Gute Besserung«, wünschte ihm Carol zum Abschied.
    Nachdem die Tür hinter ihr geschlossen war, richtete Tony sich wieder so weit auf, bis sein Rücken durch die Kissen gestützt war. Er griff nach dem Umschlag. Eine längere Unterhaltung konnte er zwar noch nicht durchstehen, aber seine Neugier, in Angelicas Tagebuch zu schauen, vermochte er nicht zu zügeln. Er zog einen dicken Stapel DIN -A 4 -Bogen aus dem Umschlag. »Dann wollen wir mal sehen, wie du wirklich warst«, sagte er leise. »Was hast du zu erzählen? Wie rechtfertigst du dich, was hast du vor mir verborgen?« Gierig begann er zu lesen.
    Für Tony war es normalerweise eine routinemäßige Sondierungsarbeit, sich durch die schriftlichen Ergüsse psychisch geschädigter Menschen hindurchzukämpfen. Aber das hier war anders, wie er schon nach wenigen Absätzen feststellte. Zunächst konnte er nicht genau sagen, was es war. Der Stil war gebildeter, kontrollierter und direkter als das Geschwafel der meisten seiner Patienten, doch das erklärte nicht, warum er so anders darauf reagierte. Er las ein paar Seiten weiter und war fasziniert und abgestoßen zugleich. Es war nicht mehr, aber auch nicht weniger selbstbesessen als die sonstigen Texte, aber da war ein frostiger Beigeschmack, der von der Norm abwich. Die meisten Mörder, deren Selbstzeugnisse Tony gelesen hatte, hatten sich weitaus mehr in ihrer blutigen Rolle glorifiziert und weniger Gedanken darauf verschwendet, was sie ihren Opfern angetan hatten. Diese Mörderin dagegen identifizierte sich sehr kühl mit ihren Taten. Doch auch das konnte nicht völlig erklären, warum er von dem, was er da las, so beunruhigt war. Was es auch war, es führte dazu, daß es ihm zunehmend widerstrebte, weiterzulesen, ganz im Gegensatz zu seiner normalen Reaktion. Er war so obsessiv darauf aus gewesen, in den Kopf des Mörders einzudringen, den er Handy Andy genannt hatte, und jetzt, da die letzten Geheimnisse ausgebreitet vor ihm lagen, schien er sie gar nicht mehr wissen zu wollen.
    Er zwang sich, weiterzulesen, notierte in Gedanken zufrieden die richtigen Voraussagen, die er im Profil getroffen hatte, und schließlich dämmerte ihm, daß das beunruhigende Gefühl, welches ihn erfaßt hatte, den ganz persönlichen Bereich betraf. Die Worte, die er da las, berührten ihn auf eine Art, die er vorher nie erfahren hatte, und es lag daran, daß das Leben, welches auf diesen Seiten vor ihm ausgebreitet war, ihn mit einer bisher unbekannten Direktheit ansprach. Es waren die Fußstapfen seiner eigenen Nemesis, deren Spuren er da verfolgte, und es war eine sehr unbequeme Reise.
    Nicht mehr in der Lage, weiterzulesen, schob er das Papier zur Seite. Er sah die Widerspiegelung seines eigenen Schicksals in den zerfetzten Körpern, die Angelica so akribisch geschildert hatte. Da er Psychologe war, wußte er genau, was mit ihm geschah. Er wußte, er stand noch unter einem Schock, war noch tief in der Verweigerung des Geschehenen gefangen. Obwohl er die Ereignisse in diesem Keller nicht aus dem Kopf bekam, gab es dennoch eine Distanz zwischen seinem Bewußtsein und der Erinnerung, so als ob er das alles aus einer großen Entfernung betrachten würde. Eines Tages aber würde der Horror der vergangenen Nacht zurückkehren, in Stereo auf ihn eindröhnen, in Cinemascope vor sein inneres Auge gestrahlt werden. Und weil er das wußte, betrachtete er seine derzeitige Erstarrung als Segen. Sein Anrufbeantworter war inzwischen sicherlich mit lukrativen Angeboten für die Story, wie der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher