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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege
Autoren: Ricarda Martin
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stehe …« Sie hielt inne, eine steile Falte bildete sich über ihrer Nasenwurzel. »Ich komme gerade vom Schiff, und ich dachte …«
    »Komm rein.« Ihre Stimme klang in Susans Ohren seltsam fremd und krächzend. »Anabell …«, fügte sie hinzu.
    »Du erinnerst dich an mich?« Anabell lächelte, und Susan stellte fest, wie schön sie geworden war. Allerdings bemerkte sie auch, dass Anabells Wangen eingefallen, der Reisemantel fadenscheinig und das Leder an dem kleinen Koffer, den sie in der Hand trug, abgewetzt waren. Mit weichen Knien ging Susan voraus ins Wohnzimmer. Sie war froh, dass die Zwillinge und Daniel noch oben waren. In ihrem Kopf brummte es wie in einem Bienenstock, sie war kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
    »Sind deine Eltern auch hier?«, war das Erste, was Susan einfiel.
    Anabell schüttelte den Kopf und setzte sich vorsichtig auf die Kante eines Sessels.
    »Sie sind tot.«
    Diese schlichten drei Wörter rissen Susan aus ihrer Erstarrung. Sie trat zu der Hausbar und schenkte sich einen Cognac ein, obwohl sie vor dem Mittag niemals trank, und bot Anabell auch etwas an, aber die junge Frau lehnte ab.
    »Was ist passiert?«, fragte Susan und setzte sich ihr gegenüber.
    Ein Schatten flog über Anabells Gesicht.
    »Der Schwarze Freitag …«, begann sie flüsternd. »Letzten Oktober, als die Börse zusammenbrach …Vater … er hat alles verloren. Alles. Sumerhays wurde zwangsversteigert, mit allen Möbeln, Gemälden, und auch unseren Schmuck mussten wir verkaufen. Mama …«, Susan bemerkte das leichte Zögern, »und ich durften nur ein paar Kleider behalten. Bevor wir das Haus verlassen mussten, schoss sich Vater eine Kugel in den Kopf. Ich fand ihn in seinem Arbeitszimmer.«
    »O Gott!« Susan sprang auf und schloss Anabell in ihre Arme. Sie merkte, wie sich die junge Frau unter ihrer Berührung versteifte, und ließ sie schnell wieder los.
    »Mama und ich gingen nach London, weil ich hoffte, dort Arbeit zu finden«, fuhr Anabell fort, ohne Susan direkt anzusehen. »Mama war nicht in der Lage, zu arbeiten, der Verlust unseres ganzen Vermögens hat sie sehr krank werden lassen. Wir hausten in einer Dachkammer irgendwo im East End, und ich versuchte alles, um Geld zu verdienen. Ich schleppte Kisten, schrubbte Böden in Kneipen und spülte Gläser und Teller, aber es reichte nie aus. Die weltweite Wirtschaftskrise hat so viele arbeitslos gemacht, wer gab da schon einer jungen Frau, die keinen Beruf erlernt hat, eine Arbeit? Ich versuchte, meiner Ausbildung entsprechend, eine Stellung als Gouvernante zu bekommen, aber niemand wollte seine Kinder der Tochter eines Selbstmörders anvertrauen. Die Sache … der Tod meines Vaters hatte ja in allen Zeitungen gestanden.«
    »Und dein Verlobter?«, flüsterte Susan. »Deine Tante Rosalind schrieb kurz vor ihrem Tod, du würdest bald heiraten.«
    »Thomas?« Anabells Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten. »Seine Familie war zwar auch von Verlusten betroffen, aber Thomas’ Vater hatte besser spekuliert als meiner. Eine völlig verarmte Frau, auf deren Familie der Skandal eines Selbstmords liegt, kam jetzt für ihren einzigen Sohn natürlich nicht mehr in Frage.«
    »Und dieser Thomas hat nicht zu dir gestanden?«, fragte Susan überrascht. »Wenn ihr euch liebt, dann …«
    »Ach was, Liebe!« Anabell winkte resigniert ab. »In unseren Kreisen heiratet man nicht aus Liebe. Thomas wäre eine gute Partie gewesen, seine angeblichen Gefühle übertrug er, als wir pleite waren, sehr schnell auf eine passendere und vor allen Dingen vermögendere Dame.«
    »Was ist dann geschehen?«, fragte Susan interessiert.
    »Der Winter war sehr kalt, wir hatten kaum Geld, um Holz zum Heizen zu kaufen. Meine Mutter … Lavinia erkrankte an Tuberkulose. Wir hatten nicht das Geld für gute Ärzte, geschweige denn für einen Sanatoriumsaufenthalt, wo man ihr Leben vielleicht hätte retten können. Sie starb vor drei Wochen.«
    »Das tut mir so leid.« Susan sah Anabell traurig an. »Ich freue mich, dass du gekommen bist, aber wie …?«
    »Ich verkaufte alles, was noch irgendwie Wert hatte, um mir die Fahrkarte leisten zu können«, beantwortete Anabell Susans Frage. »Natürlich fuhr ich auf dem Zwischendeck. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Und da war es nur natürlich, dass ich hierherkomme …« Sie verstummte und sah Susan ernst an. »Lavinia … sie hat mir alles erzählt, zwei Tage, bevor sie starb.«
    Susan zuckte zusammen und
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