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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege
Autoren: Ricarda Martin
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ungewollter Sterilität – wieder durchlässig zu machen. Dies ließ er sich gut bezahlen, aber nicht jede Dame wollte, dass ihr Mann davon erfuhr, und daher konsultierten ihn viele unter einer falschen Identität, denn eine ärztliche Schweigepflicht gegenüber Ehemännern sah das Gesetz nicht vor.
    Doktor Martin legte die Fingerspitzen seiner Hände aneinander und lehnte sich in dem bequemen Stuhl zurück. Es waren leider keine guten Nachrichten, die er der Dame mitteilen musste.
    »Mrs. Green, Sie haben mich für meine Arbeit gut bezahlt«, begann er und sah der Dame ernst in die Augen. »Darum ist es Ihr gutes Recht, die Wahrheit zu erfahren.«
    »Ich bitte darum, Herr Doktor.« Äußerlich schien sie ganz ruhig, während in ihrem Inneren ein Sturm der Gefühle tobte.
    »Nun, Mrs. Green, es tut mir aufrichtig leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich Ihnen leider nicht helfen kann.« Jetzt war es heraus, und Doktor Martin entging nicht das nervöse Zucken ihres linken Augenlides. Rasch fuhr er fort und bemühte sich um eine sachliche Ausdrucksweise. »In Ihrem Fall liegt die Sache so, dass Ihre Eileiter nicht funktionsfähig sind. Es kommt zwar zum Eisprung und somit zu Ihrem monatlichen Zyklus –«, er bemerkte, wie die Dame tiefrot wurde, als er die Sache derart direkt ansprach –, »nach meinen Erkenntnissen jedoch sind die Eier nicht ausgereift, so dass eine Befruchtung unmöglich ist.«
    Mehrere Minuten herrschte Schweigen. Die Dame hielt den Kopf gesenkt, als sie endlich leise fragte: »Und daran kann man nichts ändern? Es gibt keine Medizin oder sogar Operation, um dies zu … verbessern?«
    »Leider nicht.« Doktor Martin seufzte. Er liebte seinen Beruf, aber es war ihm lieber, seinen Patientinnen erfreuliche Nachrichten mitzuteilen. Das Strahlen in den Gesichtern der Frauen, denen er hatte helfen können, war ihm fast mehr wert als Münzen. »Es tut mir leid«, wiederholte er. »Sie müssen sich damit abfinden, niemals ein Kind zu empfangen.«
    Die Dame erhob sich. Sie schwankte leicht, hatte sich aber gleich wieder im Griff.
    »Ich danke Ihnen trotzdem, Doktor Martin.« Endlich hob sie den Kopf, und Doktor Martin sah nicht nur Traurigkeit, sondern tiefste Verzweiflung in ihren Augen.
    »Es gibt die Möglichkeit einer Adoption. Allein in London warten Tausende von Waisen auf ein neues Zuhause …«
    »Das kommt nicht in Frage.« Heftig unterbrach sie ihn. »Diese Möglichkeit scheidet völlig aus.«
    Doktor Martin seufzte innerlich. Die heftige Reaktion der Dame bestärkte ihn in seiner Vermutung, dass ihr Ehemann eine hochgestellte Persönlichkeit sein musste. Leute aus der mittleren Gesellschaftsschicht, wie zum Beispiel Händler oder Kaufleute, waren eher bereit, einem Waisenkind ein neues Zuhause zu geben, als die Adligen. Bei denen musste es immer ihr eigen Fleisch und Blut sein, das den Familiennamen fortführte – dies hatte Doktor Martin im Laufe seiner jahrzehntelangen Tätigkeit häufig erlebt.
    Sie wusste nicht, wie sie zur Tür gekommen war. Als die Krankenschwester sie fragte, ob sie ihr eine Mietdroschke rufen sollte, kam sie wieder zu sich.
    »Nein danke, ich möchte ein paar Schritte zu Fuß gehen.«
    Obwohl erst Nachmittag, waren die Gaslampen bereits entzündet worden. Ohne auf die Richtung zu achten, ging sie die Straße entlang. Doktor Martin war ihre letzte Möglichkeit gewesen. All ihre Hoffnung hatte sie in diesen Mann gesetzt, von dem ganz London sprach, doch es war alles umsonst gewesen. Die demütigenden Untersuchungen – für nichts und wieder nichts. Sie würde ihrem Mann kein Kind schenken können. Was das bedeutete, wusste sie leider nur zu gut – er würde sich von ihr trennen. Seit vier Jahren sagte er es ihr immer wieder, dass er sich eine Frau suchen würde, die in der Lage war, ihm einen Erben zu schenken. Das Recht war auf seiner Seite, sie würde eine Scheidung nicht verhindern können. Nicht, dass sie ihren Mann besonders liebte und ihn vermissen würde. Nein, aber er besaß Macht und Geld. Einst hatte er sie aufgelesen, als sie ganz unten gewesen war und nicht gewusst hatte, wovon sie die nächste Mahlzeit bezahlen sollte. In den fünf Jahren ihrer Ehe hatte sie sich an ein Leben frei von jeglichen finanziellen Sorgen gewöhnt. Ein Leben, wie es ihr der Geburt nach zustand, das ihr gewissenloser Vater jedoch beinahe ruiniert und sie und ihre Mutter in bittere Armut gestürzt hatte. Nach einer Scheidung würde sie erneut mittellos sein, denn ihr
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