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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege
Autoren: Ricarda Martin
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geschlossenen Augen wohlig in dem warmen, aber nicht zu heißen und köstlich duftenden Wasser zurück.
    »Emma. Emma Monkton.«
    »Monkton?« Susan öffnete die Augen, und das Mädchen nickte.
    »Ich bin die Enkelin des Butlers und sehr glücklich, in diesem Haus arbeiten zu dürfen. Lady Lavinia ist eine gute und gerechte Herrin.«
    Susan wurde einer Antwort enthoben, als es an die Tür klopfte. Emma öffnete und nahm ein Tablett entgegen. Über den Badewannenrand legte sie ein Holzgestell, auf dem sie das Tablett abstellte. Bei dem Anblick einer Tasse goldgelben Tees und eines Tellers mit Kresse verzierten Gurkensandwiches lief Susan das Wasser im Mund zusammen. Seit dem Mittag hatte sie nichts mehr gegessen und merkte erst jetzt, wie hungrig sie war.
    »Wenn Sie mich nicht mehr benötigen, kümmere ich mich um Ihre Kleidung, Miss«, sagte Emma und nahm Susans nasses Kleid vom Boden auf.
    Mit einer Handbewegung gab Susan dem Mädchen zu verstehen, dass sie gehen konnte, und fühlte sich dabei wie die Queen höchstpersönlich. Dann nippte sie an dem heißen Tee und verspeiste die Sandwiches binnen weniger Minuten. Das alles hier kam ihr vor wie in einem Traum. Dieser hatte zwar dramatisch begonnen, sich nun jedoch in eine Richtung gewandelt, die Susan mehr als gefiel.
    »Das wäre ein Leben!« Laut sagte sie diese Worte und schlug spielerisch mit der Handfläche auf das Wasser, das nach allen Richtungen spritzte. Dass dadurch auch der Fußboden nass wurde, war Susan egal. Wofür gab es schließlich Personal? Wenn sie ihr Bad beendet hatte, würde dieser Traum ohnehin vorbei sein und sie in ihr karges Zimmer, das kaum größer als das Badezimmer hier war, zurückkehren.
    Susan war keine schlechte Mutter, aber nun dachte sie nicht mehr an ihren Sohn. Zu fantastisch waren der Luxus eines duftenden Vollbades, des Essens und die dicken, flauschigen Handtücher, die griffbereit neben der Wanne lagen. Jimmy war es gewohnt, öfter mal allein zu sein, die paar Stunden würden dem Jungen nicht schaden. Susan interessierte es brennend, zu erfahren, was Lady Lavinia bewogen hatte, in die eiskalte Themse zu springen. Ein Mensch, der in einer solchen Umgebung lebte, konnte unmöglich so große Sorgen haben, die einen dazu trieben, Selbstmord zu begehen.
    »Lavinia Callington …« Laut ließ Susan den Namen auf der Zunge zergehen. Er passte zu ihr, denn er klang ebenso edel, wie die Gesichtszüge der Dame geformt waren. Bestimmt stammten sie und ihr Mann aus einem uralten Adelsgeschlecht und verkehrten regelmäßig bei Hofe. Sie war gespannt, Lady Lavinia näher kennenzulernen.
     
    Eine halbe Stunde später geleitete Emma Susan in das Boudoir von Lady Lavinia. Ihr eigenes Kleid war nicht mehr zu retten gewesen, so hatte Emma ihr ein abgelegtes ihrer Herrin gebracht, ebenso frische Unterwäsche. Beinahe ehrfurchtsvoll war Susan in die schneeweiße, knielange Hose und das Unterkleid aus Baumwolle geschlüpft. Sie hatte von dem Material, das sich warm und weich an den Körper schmiegte, gehört, konnte sich aber selbst keine Unterwäsche aus Baumwolle leisten. Ihre war aus derber, rauher Wolle, an zahlreichen Stellen geflickt und durch das viele Waschen grau verfärbt. Lady Lavinias altes Kleid war Susan zwar in der Taille zu weit, und der Rocksaum und die Manschetten waren abgestoßen, doch der maulbeerfarbene Samt fühlte sich wie eine Wolke an, wenn Susan über den Stoff strich. Nie zuvor hatte sie ein schöneres und eleganteres Kleid besessen, wenngleich dieses nur ein schlichtes Vormittagskleid ohne jeglichen Zierat war. Susan hoffte, das Kleid behalten zu dürfen, denn Emma hatte ihr gesagt, sie habe ihr altes verbrannt. Dann würde sie dieses Kleid für den Rest ihres Lebens in Ehren halten und es nur zu besonderen Anlässen tragen. Noch während sie sich fragte, welche besonderen Anlässe es in ihrem Leben wohl geben könnte, öffnete Emma eine Tür, und Susan sah sich Lavinia Callington gegenüber, die sich während der letzten Stunde völlig verwandelt hatte. Nichts an der hohen, schlanken Erscheinung in dem senfgelben Seidenkleid mit den perfekt aufgesteckten, brünetten Haaren erinnerte mehr an die Frau, die sich noch vor zwei Stunden in der Themse hatte ertränken wollen. Das Boudoir war mittels Gaslampen hell erleuchtet, das Licht spiegelte sich in den dunkelbraunen Augen der Lady, und nur eine leichte Blässe auf ihren Wangen ließ auf das dramatische Ereignis des späten Nachmittags schließen.
    »Setzen Sie
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