Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege
Autoren: Ricarda Martin
Vom Netzwerk:
und Rinderhälften, daher waren ihre Oberarme muskulöser als bei manchem Mann.
    Die Abwehrbewegungen der Fremden wurden schwächer, und endlich gelang es Susan, sie auf die sichere Böschung zu hieven. In der Dunkelheit konnte sie kaum die Gesichtszüge erkennen, bemerkte jedoch, dass ihr Kleid aus Seide sein musste, obwohl Susans Finger nie zuvor einen solch edlen Stoff ertastet hatten.
    »Sind Sie völlig verrückt? Wir hätten beide ertrinken können!« Susans Anspannung entlud sich in Ärger. Die Frau zuckte jedoch nur lapidar mit den Schultern.
    »Genau das wollte ich. Warum haben Sie mich nicht einfach in Ruhe gelassen?«
    Ihre Stimme war leise und klang deprimiert, was Susan bei Menschen, die mit ihrem Schicksal haderten, schon gehört hatte. Der Frau war es mit ihrem Vorhaben wahrscheinlich wirklich ernst gewesen. Sie hatte sich das Leben nehmen wollen. Susan zögerte. Sie war bis auf die Knochen durchnässt, fror erbärmlich, und Jimmy wartete sehnsüchtig auf sie. Dennoch konnte sie jetzt nicht einfach gehen, denn sie zweifelte nicht daran, dass die Frau erneut versuchen würde, sich umzubringen. Darum tastete sie nach ihren Schuhen, schlüpfte hinein und fand auch ihren Umhang. Susan legte ihn der Fremden um die Schultern, denn diese fror nicht weniger als sie selbst.
    »Ich weiß zwar nicht, warum ich es tue, aber ich bringe Sie jetzt nach Hause.« Kaum hatte Susan die Worte ausgesprochen, hätte sie sie am liebsten zurückgenommen. Was ging sie die Fremde an? Sie hatte getan, was ihre christliche Pflicht gewesen war, und sie aus dem Fluss gezogen. Wenn die Lebensmüde sich erneut hineinstürzen wollte, so war es nicht ihre Sache.
    »Nach Hause …« Resigniert strich sich die Frau die nassen Haarsträhnen aus der Stirn. »Vielleicht ist es das Beste, wenn ich nach Hause gehe. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal den Mut finde, mein Leben zu beenden.«
    »Hören Sie auf, einen solchen Unsinn zu reden. Selbstmord hat nichts mit Mut zu tun, sondern viel mehr mit Feigheit.« Susans Stimme hörte man an, wie wütend sie war. »Nichts auf dieser Welt ist so schlimm, als dass es keine Lösung dafür gäbe.«
    Langsam erhob sich die Fremde und stützte sich schwer auf Susans Arm.
    »Sie haben leicht reden«, murmelte sie. »Was wissen Sie schon vom Leben?«
    Susan verzichtete auf eine Antwort, denn sie musste sich konzentrieren, zusammen mit der Frau die glitschige Böschung zu erklimmen, ohne dabei auszurutschen und zurück in den Fluss zu fallen. Als sie endlich die Uferpromenade erreicht hatten, war immer noch weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Die beiden Frauen taumelten ein Stück den Weg entlang, bis sie in das fahle Licht einer Straßenlaterne traten. Hier sah Susan zum ersten Mal das Gesicht der Frau, deren Leben sie soeben gerettet hatte. Obwohl sie blass war, das nasse Haar ihr wirr um den Kopf hing und Schmutz auf ihren Wangen klebte, war die Fremde sehr attraktiv und nur wenige Jahre älter als Susan.
    »Wohnen Sie hier in der Nähe?« Susan stellte die Frage in der Hoffnung auf eine positive Antwort. Sie wollte die Frau so schnell wie möglich abliefern, damit sie selbst nach Hause konnte, aus den nassen Sachen herauskam und Jimmy nicht mehr länger warten musste, aber die Fremde schüttelte den Kopf.
    »Wenn Sie uns vielleicht eine Droschke besorgen könnten?« Ihre Stimme klang zart, beinahe schon schüchtern, und sie umklammerte Susans Oberarm so fest, als wolle sie diesen nie wieder loslassen.
    Susan seufzte und sah sich um.
    »Wir müssen ein paar Schritte laufen, am Parlamentsgebäude werden wir bestimmt eine Droschke finden. Schaffen Sie das?«
    Die Fremde nickte, ließ Susan jedoch nicht los, so dass Susan sie mehr oder weniger mitschleppte. Just in dem Moment, als der mächtige Glockenturm im Nebel auftauchte, schlug Big Ben die sechste Abendstunde. Jetzt musste Lilo Jimmy allein lassen, um zur Arbeit zu gehen, dachte Susan und seufzte. Nun, in einer Stunde würde sie wohl zu Hause sein, so lange musste der Junge eben warten.
    Auf dem Vorplatz des Parlaments standen einzelne Droschken, die Kutscher, in dicke Mäntel gehüllt und Tücher vor Mund und Nase gezogen, trotzten der nebligen Kälte.
    »Von hier kommen Sie sicher nach Hause. Ich muss mich jetzt nämlich beeilen«, sagte Susan und versuchte, sich von der Frau zu lösen.
    Wie die Krallen eines Raubvogels schlossen sich die Finger der Frau um Susans Arm.
    »Kommen Sie mit. Bitte, Sie haben versprochen, mich nach Hause zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher