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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege
Autoren: Ricarda Martin
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Mann verfügte über Mittel und Wege, sie – die unfruchtbare Ehefrau – zurück in die Gosse zu stoßen.
    Die Dunkelheit schloss sich dicht um sie, als sie das Ufer der Themse erreichte. Sie wusste, zu Hause würde man mit dem Abendessen auf sie warten, aber wie konnte sie jetzt noch in das Haus in Belgravia zurückkehren, in der Gewissheit, es bald bettelarm verlassen zu müssen. Zum ersten Mal, seit sie die vernichtende Diagnose erfahren hatte, weinte sie. Die Tränen liefen über ihre Wangen, als sie näher an die Uferböschung trat. Dunkel, schmutzig und träge lag das Wasser der Themse vor ihr. Sie wollte nicht wieder arm und von der Gesellschaft ausgeschlossen sein. Niemals wieder! Da war es besser, sie schied aus dem Leben. Sie sah sich um, soweit es der dichte Nebel zuließ. Niemand war zu sehen, das Wetter lockte die Menschen nicht auf die Straße.
    Sie schwang ein Bein über die Absperrung. Dabei verhakte sich der Rock an dem Gitter und riss bis übers Knie ein. Es war ihr gleichgültig. Dann stand sie mit beiden Füßen auf der Böschung. Jetzt brauchte sie nur noch einen Schritt vorwärts zu machen. Sie schloss die Augen und sprang …

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    Erster Teil
Susan
    November 1906 bis Dezember 1907
     

1. Kapitel
    London, November 1906
    E in naher Kirchturm schlug die fünfte Stunde, und Susan beschleunigte ihre Schritte. Obwohl sie bereits zwei Meilen kräftig ausgeschritten war, fröstelte sie, denn der Nebel durchfeuchtete ihren dünnen, fadenscheinigen Umhang und drang ihr in alle Glieder. Sie hasste dieses Wetter! Sie hasste London im November, wenn sich der Rauch aus Tausenden von Kaminen mit dem Nebel vermischte und die Luft zum Schneiden dick war. Noch mehr hasste sie ihre Arbeit. Es blieb ihr jedoch nichts anderes übrig, als tagein, tagaus in der Fleischerei in Smithfield blutige Stücke zu zerteilen, wenn sie und ihr Sohn nicht verhungern wollten. Obwohl sie ihre Hände und Arme mit Seife und einer harten Bürste schrubbte, bis sie rot und rissig waren, schien sich der Geruch nach rohem Fleisch in jede ihrer Poren eingegraben zu haben und wich nie von ihr. Heute war es wieder einmal später als vereinbart geworden, bis der alte Carter sie endlich gehen ließ, denn er hatte darauf bestanden, dass Susan alle Holzbänke, auf denen das Fleisch zerteilt wurde, penibel reinigte, bevor sie Schluss machen durfte. Dabei wusste Carter, dass sie einen Sohn hatte, der auf Susan wartete. Die Nachbarin, die sich um den Jungen kümmerte, während Susan tagsüber bei der Arbeit war, liebte das Kind zwar wie ihr eigenes, arbeitete jedoch in einer Bar und konnte nicht länger als bis sechs Uhr am Abend auf den Jungen aufpassen. Öfter schon war es vorgekommen, dass der kleine Jimmy allein in dem Loch, das Susans Vermieter als Zimmer bezeichnete, hockte und weinend auf seine Mutter warten musste. In den letzten Monaten hatte Susan alles versucht, eine andere Arbeitsstelle zu bekommen – allerdings erfolglos. In London gab es zu viele Arbeitslose und zu wenige freie Stellen. Sie musste froh sein, überhaupt Arbeit zu haben und nicht mit ihrem Sohn in ein Armenhaus ziehen zu müssen. Zudem war jetzt etwas eingetreten, das es ihr unmöglich machte, eine andere Anstellung zu bekommen. Susan seufzte und begann zu rennen, obwohl heftiges Seitenstechen ihr das Atmen erschwerte. Sie roch den Fluss und ahnte, dass sie bald die Westminster Bridge erreicht haben würde, denn sehen konnte sie keine drei Fuß weit, so dicht war der Nebel, der sich besonders in der Nähe der Themse wie ein graues Leintuch über alles legte. Wenn sie den Fluss überquert hatte, war es nur noch eine knappe halbe Stunde bis zur Wadding Street. Natürlich hätte Susan den Bus oder die U-Bahn nehmen und damit schneller zu Hause sein können, aber öffentliche Verkehrsmittel kosteten Geld. Geld, das Susan nicht hatte, denn der Fleischer Carter zahlte seinen Angestellten einen Hungerlohn. Obwohl Susan die gleiche anstrengende Arbeit wie die beiden Männer, die ebenfalls bei Carter beschäftigt waren, verrichtete, erhielt sie nur knapp die Hälfte des Lohns wie die Männer. Sie war eben nur eine Frau, und der Fleischer wusste genau, dass sie auf die Arbeit angewiesen war. Susan schüttelte sich wie ein junger Hund, als könne sie damit all die Sorgen, die schwer auf ihren schmalen Schultern lasteten, abwerfen. Es war sinnlos, mit dem Schicksal zu hadern. Das war etwas, was Susan im Laufe ihres zweiundzwanzigjährigen Lebens gelernt hatte. Sie
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