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Das Licht von Shambala

Das Licht von Shambala

Titel: Das Licht von Shambala
Autoren: Michael Peinkofer
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wurden die wenigsten beigesetzt. Aus Furcht wurden sie einfach liegen gelassen oder nur mit wenigen Schaufeln Erde bedeckt, die der Regen der Sommermonate jedoch sogleich wieder abtrug. Mehr als zweitausend Tote häuften sich inzwischen auf den Friedhöfen der Stadt und sorgten für einen unerträglichen Geruch, der sich in der sengenden Julihitze ausbreitete und bis in den letzten Winkel kroch. Mancher Wohlhabende suchte ihn mit Unmengen von Parfum und anderen duftenden Essenzen zu vertreiben, aber dieses Ansinnen war ebenso lächerlich wie die Versprechungen, mit denen Wunderheiler und Wahrsager in diesen Tagen aus der Not der Menschen Profit zu schlagen suchten. In einer Stadt, die dem Untergang ins Auge blickte, war es nicht schwierig, ein Medium zu finden - die Herausforderung bestand darin, unter all den Scharlatanen jene auszusieben, die tatsächlich die Gabe besaßen und bereit waren, ihr Wissen mit einem blanc, mit einem Weißen zu teilen ...
    Prag.
    Alexandria.
    Konstantinopel.
    Basra.
    Singapur.
    Kanton.
    Die Namen der Städte, die Lemont in den vergangenen Jahren bereist hatte, reihten sich beinahe endlos aneinander. Universitäten und Schulen, Bibliotheken und Klöster - an zahllosen Orten, an denen altes Wissen bewahrt und gelehrt wurde, hatte er nach Erleuchtung gesucht, jedoch ohne sie zu finden; bis ihm irgendwann die Erkenntnis aufgegangen war, dass es nicht die Wissenschaft, nicht die Schärfe des menschlichen Verstandes war, die ihm verborgenes Wissen erschließen würden, sondern dass nur übernatürliche Kräfte dazu in der Lage waren; jene Dinge, die außerhalb rationalen Begreifens lagen.
    Lemont glaubte fest daran, aufgrund seiner Herkunft und des Gegenstands, der sich in seinem Besitz befand, von der Geschichte zu Höherem ausersehen zu sein, aber sein Glaube allein war wertlos. Es hatte ihn wertvolle Jahre seines Lebens gekostet, die Zusammenhänge zu rekonstruieren. Nun wollte er Gewissheit, und um dieser Gewissheit willen war er nach New Orleans gekommen. Die Stadt am Mississippi, seit zwei Generationen Inbegriff des Fortschritts, des Überflusses, aber auch des Lasters, war die letzte Station seiner Reise und gleichzeitig die letzte Hoffnung auf Erkenntnis, und keine Seuche der Welt würde ihn aufhalten.
    Vor der grob gezimmerten Holztür, die mit einem rätselhaften Zeichen bemalt war, blieb er stehen. Wieder drang ein gellender Schrei durch die Nacht, wieder läutete die Totenglocke. Doch Lemont nahm es kaum noch wahr. Er war am Ziel seiner Reise angelangt.
    Mit bebenden Händen klopfte er an die Tür.
    Zweimal, wie es vereinbart worden war.
    »Herein«, tönte es von drinnen.
    Er drückte die rostige Klinke. Knarrend schwang die Tür auf, und unter dem niederen Sturz hindurch trat Lemont ein.
    Das Haus, dessen Wände windschief und brüchig waren, bestand nur aus einem einzigen Raum. Über einem Kamin, in dem ein Feuer prasselte und flackernden Schein verbreitete, hing ein eiserner Kessel. Die Mitte der Kammer nahm ein einfacher Tisch ein. Dahinter saß eine junge Frau mit langem schwarzem Haar, deren buntes, nach karibischer Mode geschneidertes Kleid angesichts des allgegenwärtigen Todes fremd und deplatziert wirkte.
    Lemont löste das Gesichtstuch. »Bist du die Seherin?«, fragte er.
    Die junge Frau schaute wortlos zu ihm auf. Sie war Kreolin, und auch wenn er es sich nicht gerne eingestand, war sie eine Schönheit. Große schwarze Augen blickten aus einem ebenmäßigen Gesicht, dessen Teint die Farbe von dunklem Honig hatte, und die vollen Lippen weckten in ihm Gefühle, die er lange nicht empfunden hatte. Französische Frauen mochten anmutig sein und ihre Haut die Farbe von Porzellan haben - nicht eine von ihnen jedoch verströmte jene Aura animalischer Wildheit, die von der Kreolin ausging. Lemont ertappte sich dabei, dass sein Blick immer wieder an ihrem bunten, rüschenbesetzten Kleid emporwanderte, in den Ausschnitt kroch und sich an den Ansätzen ihrer vollen Brüste festsog. Französische Frauen hätten ihre Reize niemals auf derart schamlose Weise offen gelegt und so die Begehrlichkeit eines rechtschaffenen Monsieurs geweckt.
    Aber dies war die Neue Welt.
    Eine neue Zeit.
    Mit neuen Gesetzen ...
    Lemont hatte nicht vor, sich mit Vorreden aufzuhalten. Viel zu lange hatte er schon gewartet. »Man hat dir gesagt, warum ich hier bin«, kam er direkt zur Sache. »Wirst du tun, was ich von dir verlange? Verstehst du überhaupt, was ich sage?«
    Die Kreolin musterte ihn nicht
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