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Das Licht von Shambala

Das Licht von Shambala

Titel: Das Licht von Shambala
Autoren: Michael Peinkofer
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sie sich erneut dem Würfel zu und berührte ihn, worauf sie wiederum ein Beben durchlief, als hätte sie ihre Hand nicht an ein kaltes Stück Metall gelegt, sondern an einen feurigen Liebhaber. Schweißperlen traten ihr auf die Stirn, so sehr schien sie sich anzustrengen, und ihre Brust, die sich unter tiefen Atemzügen hob und senkte, zog einmal mehr Lemonts Aufmerksamkeit auf sich. Die Beleuchtung war gedämpft, nur das Feuer verbreitete lodernden Schein. Die Stille im Raum wog zentnerschwer, nur hin und wieder drang ein entsetzter Schrei durch die Nacht.
    Plötzlich begannen sich die Lippen der Kreolin zu bewegen. Sie formten lautlose Worte - eine Beschwörungsformel, eine Verwünschung, vielleicht auch ein Gebet.
    »Ist das alles?«, fragte Lemont fast enttäuscht. »Keine Tarot-Karten? Keine Federn? Keine Knochen?«
    Ihre Antwort fiel anders aus, als er es erwartet hatte. Jäh öffnete sie ihre Augen wieder, aber die Pupillen waren nicht zu sehen. Nur das Weiße starrte Lemont entgegen, sodass er erschrocken zurückfuhr. »Verflucht, was tust du da?«, rief er aus, aber die junge Frau reagierte nicht, so, als wäre sie in tiefe Trance versunken.
    »Der Würfel«, verkündete sie mit monotoner, fast leiernder Stimme, »gibt sein Geheimnis nicht freiwillig preis. Viele starben, um es zu hüten. Wächter mit nur einem Auge.«
    »Mit nur einem Auge?«, fragte Lemont. »Was faselst du da?«
    »Nur die Erbin«, fuhr die Seherin fort, »darf den Inhalt des Codicubus kennen.«
    »Erbin? Was für eine Erbin?«
    »Auf ihren Schultern ruht die Verantwortung ... Aber sie ist alt und schwach ... Erneuerung ... In der Einsamkeit soll sie leben, verborgen vor den Augen der Welt, bis sie stark genug ist, den Schatten zu trotzen ... Schatten ... die Schatten ...«
    Ihre Stimme war lauter geworden. Die Kreolin bewegte sich auf ihrem Stuhl, als wiege sie sich zum Rhythmus einer Musik, die nur sie zu hören vermochte. »Sie kommen«, fuhr sie flüsternd fort. »An einem weit entfernten Ort ... durch Schnee und Eis ... zu ergründen, was verborgen bleiben muss ...«
    »Wer?«, wollte Lemont wissen. »Von wem sprichst du, Weib?«
    »Ihr Anführer ist ein Mann, der Wissen sucht, aber er weiß es noch nicht ... stattdessen wird er den Pfad des Krieges beschreiten, schon sehr bald ... Ich sehe Blut, viel Blut ... einen Acker des Todes ...«
    »Und die Schatten?«, verlangte Lemont zu erfahren. »Was ist mit ihnen? Und wer sind die Einäugigen, von denen du gesprochen hast? Hat es etwas mit dem Symbol auf dem Würfel zu tun?«
    »Ein Vermächtnis, Jahrtausende alt ... Es wird Verderben über die Menschheit bringen, Verderben, hörst du ...?« Zu Lemonts Entsetzen richtete sich der Blick ihrer pupillenlosen Augen direkt auf ihn. »Die Schatz und Gold begehren, auf den fernen Gipfeln, wo alles begann. Die Diener, die Arimaspen, im Zeichen des Einen Auges ...«
    »Was?« Lemont verstand kein Wort. Nicht nur, dass ihre Stimme immer leiernder wurde, es schienen auch nicht ihre Worte zu sein, die sie sprach. Erlaubte sie sich einen Scherz mit ihm? Oder hatte sich ihr Geist tatsächlich für eine Ebene geöffnet, die anderen Menschen verschlossen blieb? Lemont fühlte spontane Eifersucht. Er war kein Medium, dabei hätte er in diesem Moment alles dafür gegeben, zu sehen, was sie sah.
    Im nächsten Moment jedoch veränderten sich ihre Züge. Falten gruben sich in ihre Miene und ließen sie um Jahre altern, Furcht verzerrte plötzlich ihre Mundwinkel.
    »Was ist?«, fragte Lemont. »Was hast du?«
    »Das Auge«, stieß die Kreolin hervor. »Das Eine Auge! Es beobachtet uns! Das Eine Auge ...«
    Sie begann am ganzen Leib zu zittern. Panik hatte von ihr Besitz ergriffen, aber sie schien nicht in der Lage zu sein, sich aus dem Sog des Entsetzens zu lösen. Lemont wusste, was das bedeutete - so war es auch bei den anderen gewesen, die versucht hatten, das Geheimnis des Würfels zu ergründen, und die letztendlich im Wahnsinn versunken waren. Keiner von ihnen war auch nur annähernd so weit gekommen wie die Kreolin - nun jedoch schienen auch ihre Fähigkeiten zu versagen.
    Sie gab einen heiseren Schrei von sich und warf den Kopf hin und her, sodass ihre wilde Mähne ihr Gesicht wie dunkles Feuer umloderte. Lemont war wie gebannt von ihrem Anblick. Was immer mit ihr vorging, schien sie zu enthemmen und ihr animalisches Wesen vollends zu entfesseln. Ihr Haar stand wirr vom Kopf ab, die Ärmel ihres Kleides rutschten herab und entblößten ihre
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