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Das Licht von Shambala

Das Licht von Shambala

Titel: Das Licht von Shambala
Autoren: Michael Peinkofer
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christliche Seelen zum wahren Glauben zu bekehren. Diese Versuche waren aber durchweg gut gemeint und wurden in der Regel in aller Höflichkeit vorgetragen. Anders verhielt es sich, wenn jemand gegen geltende Regeln verstieß und sich beispielsweise nicht an den Grundsatz der Geschlechtertrennung hielt, der eine mindestens ebenso lange Tradition hatte. Vorwurfsvolle Blicke waren in diesem Fall das Mindeste, worauf sich der Besucher einstellen durfte - so wie jene, denen sich Sarah Kincaid und Friedrich Hingis ausgesetzt sahen, als sie das Kaffeehaus im Herzen des Basars betraten ...
    »O-oh«, machte der Gelehrte in seinem unnachahmlichen Schweizer Akzent. »Das ist nicht gut.«
    »Was meinst du?«, fragte Sarah und gab sich ahnungslos, was in Anbetracht der Situation allerdings ziemlich unglaubwürdig wirkte. Denn kaum hatte sie ihren Fuß über die Schwelle des Kaffeehauses gesetzt, waren die Gespräche verstummt, und buchstäblich alle Augen hatten sich auf sie gerichtet.
    Sarah ließ ihren Blick über die Männer gleiten, die auf großen Kissen um kleine Tische saßen und sich - jedenfalls noch bis vor wenigen Augenblicken - angeregt unterhalten hatten, während sie stark gesüßten Mokka aus kleinen Tässchen tranken. Aus dem Hintergrund des Lokals erhob sich eine groß gewachsene, vierschrötige Gestalt, die drohend näher kam, zweifellos der Besitzer.
    »Ich habe dir gesagt, dass das Ärger geben wird«, raunte Hingis Sarah zu, wobei sich seine Lippen kaum bewegten. »Warum musstest du auch unbedingt mitkommen?«
    »Weil ich es satt habe zu warten«, entgegnete Sarah schlicht und trat noch einen Schritt vor.
    Schon in England hätte es einen Affront ohnegleichen bedeutet, hätte sich eine Frau ungebeten Zugang zu einem der exklusiven Herrenclubs verschafft, die sich an der Londoner Pall Mall aneinander reihten. Für die Männer im Kaffeehaus war es ein Tabubruch, der als Angriff auf die bestehende Gesellschaftsordnung angesehen werden musste, und dies umso mehr, da sich Sarah den lokalen Gepflogenheiten angepasst hatte und osmanische Kleidung trug, also nicht auf den ersten Blick als Europäerin zu erkennen war: Über einem weit geschnittenen Hemd, gömlek genannt, und den obligatorischen Pluderhosen trug sie den traditionellen entari, ein aus Samt geschneidertes Kleid, über das sie wiederum eine lange Jacke gezogen hatte, den dolaman. Schon der alte Gardiner hatte Sarah beigebracht, dass man gut daran tat, sich in fernen Ländern nach einheimischem Brauch zu kleiden, da die lokale Kleidung den klimatischen Erfordernissen stets am besten angepasst war.
    Als Kopfbedeckung hatte Sarah einen Fes aus Filz gewählt, wie ihn auch viele einheimische Frauen trugen. Daran war ein zweiteiliger Schleier befestigt, der die Stirnpartie sowie die untere Hälfte ihres Gesichts bedeckte. Nur ein schmaler Sehschlitz blieb dazwischen frei, durch den Sarah in die ebenso staunenden wie vorwurfsvollen Gesichter blickte. Sie beendete das Versteckspiel, indem sie den Schleier lüftete und sich als Ausländerin zu erkennen gab.
    Die allgemeine Entrüstung legte sich daraufhin ein wenig. Wenn europäische Frauen sich renitent und ungebührlich verhielten, so schienen die sich wieder entspannenden Mienen zu sagen, war das vorrangig das Problem der europäischen Männer ...
    »Wir suchen jemanden«, rief Sarah auf Arabisch, das sie fließend beherrschte, sicher, dass sie von vielen im Lokal verstanden wurde. Hingis, der neben ihr stand, trat von einem Bein auf das andere und knetete nervös die Krempe des Zylinders, den er beim Eintreten abgenommen hatte. Anders als Sarah hatte er es vorgezogen, bei seiner westlichen Kleidung zu bleiben. Den angespannten Zügen des drahtigen Schweizers war zu entnehmen, dass er am liebsten im Boden versunken wäre.
    »Wen?«, fragte jemand mit rauer Stimme. Es war der Wirt, der jetzt unmittelbar vor ihnen stand und in seiner weiten Kleidung noch einmal so breit und eindrucksvoll wirkte. Seiner verkniffenen Miene war zu entnehmen, dass seine Geduld einer harten Prüfung ausgesetzt war.
    »Einen jungen Turkmenen«, erklärte Sarah kurzerhand. »Sein Name ist Ufuk. Habt ihr von ihm gehört?«
    Der Wirt reckte sein bärtiges Kinn vor. »Und wenn?«, erwiderte er angriffslustig.
    »Er wollte uns treffen. Draußen vor dem Lokal. Vor einer halben Stunde«, sagte Sarah.
    »Achtundzwanzig Minuten«, verbesserte Hingis, der eine Taschenuhr aus der Innentasche seines Gehrocks gezogen hatte und ein wenig verlegen
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