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Das Leuchten der Insel

Das Leuchten der Insel

Titel: Das Leuchten der Insel
Autoren: Kathleen McCleary
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Partys in der alten Post (in der sich jetzt ein Waschsalon befand) derart drängten, dass das Haus aus allen Nähten platzte. Es waren nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern, die im wahrsten Sinn des Wortes eine Gemeinschaft bildeten und die Kinder der anderen genauso gut kannten, ermutigten und erzogen wie ihre eigenen.
    Als sie überlegte, nach Seattle zu ziehen und sich dort Arbeit zu suchen – mit dreiunddreißig oder vierunddreißig, ohne eine nennenswerte berufliche Vita und mit keinen weiteren Fähigkeiten als beispielsweise der, ein Huhn in fünf Minuten vollständig rupfen oder die Armwunde eines Mannes mit gekochtem weißem Zwirnsfaden und einer spitzen Nadel zusammennähen zu können –, bekam sie Angst. Sie konnte sich und Jim nicht ernähren, und selbst wenn sie eine Arbeit fand, was dann? Wer würde auf Jim aufpassen, während sie täglich für acht oder zehn Stunden zur Arbeit ging? Sie würden in einer kleinen Wohnung leben müssen, und wer wusste, was für eine Nachbarschaft sie sich würden leisten können?! Eine ihrer Schwestern war krank und wohnte noch immer zu Hause. Ihre andere Schwester war verheiratet und hatte zwar ein eigenes Haus, aber auch eine eigene Familie. Nein, für Jim war Sounder das Beste, und daher blieb sie.
    Dann, nach dem Unfall, dreizehn Jahre später, hatte sie kaum noch das Bedürfnis wegzugehen. Wenn sie nach dem Unfall draußen in der Welt gewesen wäre, hätte sie möglicherweise den Verstand verloren. Auf Sounder war sie an einem Ort, wo niemand sie danach beurteilte, was geschehen war, und wo sich Jim, der knapp über zwölf war, in Sicherheit befand sich oder zumindest so sicher war, wie man es in einer Welt voller Überraschungen eben sein konnte.
    Betty seufzte.
    »Was ist, Grim?«, fragte Baker.
    »Nichts«, antwortete sie.
    Irgendwie fühlte Betty gegenüber dieser jüngeren Frau, die auf die Insel kam, um in der Hütte zu wohnen, in der sie selbst ihr Kind großgezogen hatte, eine tiefe Verbundenheit, obwohl sie ihr noch nie begegnet war. Gedanken und Gefühle, die sie für längst vergangen und vergessen gehalten hatte, stiegen wieder in ihr auf wie junge Baumsprosse auf dem Waldboden – ausdauernd und beharrlich. Einige davon wollte sie nicht erneut denken oder fühlen. Nicht jetzt. Sie veränderte die Position ihres knochigen Körpers auf dem Vordersitz des Pick-ups.
    »Weißt du denn, warum sie herkommen?«, fragte Baker.
    Betty schüttelte den Kopf: »Keine Ahnung.«
    Dabei wusste sie es. Susannah brachte ihre Tochter hierher, damit sie in Sicherheit war – so viel war klar. Aber das Leid ereilte jeden früher oder später, ob man nun weglief oder dort blieb, wo man war.

3. Kapitel
    Susannah 2011
    D as Erste, was Susannah an Jim Pavalak auffiel, waren seine Augen, die einen weichen moosigen Grünton hatten, genau wie das Wasser des Lake Michigan im Winter. Das Zweite, was sie bemerkte, war die Art, wie er zuhörte: den Kopf auf eine Seite gelegt und so, als habe er alle Zeit der Welt. Er sah sie unverwandt an, während er ihr die Hand schüttelte, sich nach der Fahrt mit der Fähre erkundigte und sie auf den San-Juan-Inseln willkommen hieß. Susannah, die an das für Gespräche an der Ostküste typische maschinengewehrartige Geplapper und die zerstreuten Blicke gewöhnt war, fand das ungewöhnlich. Das Dritte, was sie registrierte, war seine absolute Sicherheit hinter dem Steuer des Boots. Ihr Vater war genauso gewesen, so sicher auf dem Wasser, dass das Steuern des Boots so natürlich wirkte wie Atmen. Jims Gelassenheit – er ließ eine Hand auf dem Steuer ruhen und drehte den Körper zur Seite, sodass er Quinn ansehen konnte, während sie sich unterhielten – erinnerte sie so sehr an ihren Vater, dass es ihr auf die Nerven ging.
    Jim hatte sie am Anlegeplatz der Fähre abgeholt, und dann waren sie unter dem weiten, goldgelb erstrahlenden Blätterdach alter Eichen durch die winzige Stadt Friday Harbor zum Jachthafen gegangen. Die Räder ihrer Koffer rumpelten über die Holzplanken des Stegs. Der aufmerksame Quinn erblickte zwei im Wasser neben ihnen herschwimmende Seeotter.
    »Alle sind neugierig darauf zu erfahren, warum Sie sich für Sounder entschieden haben«, rief Jim über seine Schulter, während er das Boot rückwärts aus seinem schmalen Anlegeplatz hinaussteuerte. Er hatte Quinn bereits über Otis, die Schildkröte, befragt und sogar versucht, Katie mit einzubinden, die ihn angelächelt hatte, aber die weißen Stöpsel ihres
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