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Das Leuchten der Insel

Das Leuchten der Insel

Titel: Das Leuchten der Insel
Autoren: Kathleen McCleary
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damit sie wusste, wann sie wo sein musste. »Quinn Zoo, 15.00 Uhr: Stiefel bringen«, »Mr. Mumbles: 16.30 Uhr zum Tierarzt«, und »Müsliriegel und Saft zum Fußballplatz, 18.00 Uhr«. Wie alle anderen in Tilton, verbrachte auch Susannah ihre Nachmittage, Abende und Wochenenden damit, von einem Unterricht oder Spiel oder Training zum nächsten zu fahren, während die Kinder im Auto aßen und die Krümel von ihren Schenkeln schnippten. »Wir haben so viel um die Ohren«, klagten die Eltern. »Die Kinder bekommen nie genug Schlaf, und meine Familie glaubt, ein selbst gekochtes Essen bestünde aus einem überbackenen Käsesandwich.«
    Aber für Susannah bestand ein selbst gekochtes Essen natürlich nicht aus einem überbackenen Käsesandwich, sondern aus einer selbst gemachten Pizza und Suppen, die stundenlang vor sich hin köchelten, und selbst gebackenen Keksen. Sie hatte ein Jahr nach der Geburt von Quinn aufgehört zu arbeiten und widmete sich seither ganz der Aufgabe, ihren Kindern die Kindheit zu schenken, die sie selbst nie gehabt hatte, und das Vorbild abzugeben, das ihr nie zur Verfügung gestanden hatte. Neben der Bewältigung des vollgepackten Terminkalenders der Kinder arbeitete sie zweimal wöchentlich ehrenamtlich in der Schulbücherei, wirkte im Vorstand der Tilton Arts Foundation mit, kochte jeden Monat für das Obdachlosenheim von Tilton und verrichtete Sekretariatsdienste für den Lehrer-Eltern-Ausschuss. Es war aufreibend, die ganze Zeit so viel Verantwortung zu tragen und ständig gut sein zu müssen.
    »Jetzt nicht mehr«, sagte Susannah.
    »Was jetzt nicht mehr?«, fragte Quinn.
    »Nichts«, erwiderte Susannah und lächelte ihn an. »Ich habe nur laut gedacht. Danke, dass du mir den Adler gezeigt hast. Ich sehe jetzt mal nach Katie. Lehn dich nicht zu weit über die Reling.«
    Wieder stieg die Angst aus ihrem Magen auf und füllte ihre Brust. Eine leichte Übelkeit überkam sie.
    »Mom, ich bin elf und kein Baby mehr!«, protestierte Quinn, aber er lächelte sie dabei an.
    Der Gedanke, nach Katie zu suchen, verstärkte ihre Übelkeit. Im vergangenen Jahr hatten das Nachdenken über Katie, die Sorge um Katie und das Sehen nach Katie jeden Augenblick ihres Wachseins ausgefüllt und auch die meisten ihrer Träume beherrscht.
    »Du kannst nur so glücklich sein wie dein unglücklichstes Kind«, pflegte Matt ihr gegenüber zu zitieren. Aber Susannah glaubte das nicht. Wenn, dann war sie unglücklicher als Katie – und zwar wegen Katie. Die Fähre konnte sie gar nicht schnell genug von jenem Leben wegbringen.
    Susannah holte tief Luft und stieß die breiten Schwingtüren auf, die zur Hauptkabine führten. Sie sah sich um und ließ ihren Blick über ein Kleinkind streifen, das sich auf dem grauen Linoleumboden wälzte, über Rucksäcke und Aktentaschen und Passagiere, die ihre Kaffeebecher umklammerten, bis sie ihre Tochter entdeckte. Katie lümmelte in einer Sitzecke, den Rücken an das Fenster gelehnt, die Füße auf der braunen Vinylbank, die Augen auf eine Illustrierte in ihrem Schoß fixiert.
    »Hallo«, sagte Susannah und glitt neben sie auf die Bank.
    Ohne aufzusehen, sagte Katie: »Mein Handy geht hier nicht.«
    Susannah ignorierte ihren Kommentar. Natürlich konnte sie nicht erwarten, dass Katie über diesen Schritt froh war. Sie hoffte einfach nur, dass Katie die Notwendigkeit begriff.
    »Quinn hat mir gerade einen Adler gezeigt«, sagte Susannah. »Willst du nicht mit rauskommen und sehen, wie es hier ist?«
    »Ich weiß, wie es ist«, erwiderte Katie, die Augen weiter auf die Illustrierte geheftet. »Wasser, Insel, Wasser, Insel, Wasser, Insel. Das Leben mit den Walen wird mein Leben verändern. Ich bin die Idealbesetzung für Free Willy – Ruf der Freiheit . Juhu!« Sie hob einen Finger in die Luft und ließ ihn kreisen.
    »Wir sind noch einige Stunden entfernt«, meinte Susannah. »Gib der Sache eine Chance.«
    Katie legte die Illustrierte hin, ließ ihre langen Beine unter den Tisch gleiten und kehrte Susannah den Rücken zu. Ihr dichtes schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, und Susannah konnte die zarte Kurve ihres Ohrs gleich über dem Ohrläppchen sehen. Sie erinnerte sich daran, wie sie über den Abstand nachgegrübelt hatte, als Katie noch ein Baby gewesen war und beim Stillen ihr muschelähnliches Ohr Susannahs Gesicht zugewandt hatte. Sie fühlte ein plötzliches Bedürfnis, sich vorzubeugen und mit ihren Lippen an dem Ohrläppchen ihrer Tochter
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