Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leuchten der Insel

Das Leuchten der Insel

Titel: Das Leuchten der Insel
Autoren: Kathleen McCleary
Vom Netzwerk:
Menschenopfer dar und verbrennen ihn.«
    »Kate! Halt den Mund!«
    »Gut«, erwiderte sie. »Ich sag’s ja nur.« Sie nahm ihren iPod aus dem Rucksack, steckte sich die Stöpsel der Kopfhörer in die Ohren und schaltete das Gerät ein.
    »Mom?«, fragte Quinn. »Ist das wahr? Hast du den Film gesehen?«
    Sie sah die beiden an und erinnerte sich an Schnappschüsse von anderen Katies und Quinns: Der vierjährige Quinn im Park, der ihre Taschen mit seinen Geschenken füllte – einem Stein, einer Samenhülse von einem Ahornbaum, der Kappe einer Eichel. Die noch nicht ein Jahr alte Katie, die am ersten warmen Frühlingsmorgen mit ihren nackten Füßen vergnügte Babyschritte im jungen Gras machte und dabei vor Freude jauchzte. Dies waren ihre Kinder und doch nicht ihre Kinder. Sie liebte sie wie eh und je, hatte aber zuweilen auch fast das Gefühl, sie nicht ertragen zu können. Die Dinge, die in diesem Jahr geschehen waren, hatten so viel Aufmerksamkeit und Wachsamkeit erfordert – von den schmerzlichen Gefühlen gar nicht zu reden –, dass sie sich total erschöpft fühlte.
    Susannah sah aus dem Fenster der Fähre. Am Horizont zeichnete sich eine scharfe, durch die Tannenspitzen gezackte Linie ab, die so ganz anders war als die weiche, runde Silhouette der Laubbäume daheim in Virginia. Der schneebedeckte Gipfel des Mount Baker schwebte am Horizont. Friday Harbor, das Ziel der Fähre, war die größte Stadt von San Juan, aber sie hatte noch nicht einmal eine Verkehrsampel. Von dort aus mussten sie noch eineinhalb weitere Stunden mit einem Boot bis Sounder fahren, wo es keine asphaltierten Straßen, keine Festnetztelefone, keine Elektrizität und lediglich fünfundsiebzig Menschen gab.
    Susannah warf ihrer Tochter, die sich im hintersten Winkel der Sitzbank wütend zusammengekrümmt hatte, und ihrem Sohn, der mit aufgerissenen Augen und voller Angst neben ihr stand, einen Blick zu. Sie dachte an ihren Mann, der fast fünftausend Kilometer entfernt allein in ihrem großen Haus war, und sie dachte mit einem gewissen Schuldgefühl an die Erleichterung, die sie dabei empfunden hatte, ihn zurückzulassen.
    Sie hoffte, dass sie nicht den größten Fehler ihres Lebens beging.

2. Kapitel
    Betty 2011
    B etty Pavalak stand an ihrem Spülbecken und starrte aus dem Fenster, obwohl sie nichts als ihr eigenes Spiegelbild sehen konnte. Die Dämmerung trat jetzt schon früh ein. Die Nächte hier waren dunkler und schwärzer als alles, was ihr je begegnet war. Anfangs hatte sie das gehasst – die Nächte, die so dunkel waren, dass man draußen keinen Schritt machen konnte, ohne zu stolpern, und sich nicht sicher war, wo der Boden unter den Füßen begann. Nach dem hellen Licht und dem weiten Himmel von Seattle hatten diese am Rand der Wälder so früh anbrechenden Nächte sie bedrängt, als stünde sie in einem überfüllten Fahrstuhl. Mehr als einmal war sie aus dem Bett aufgestanden, hatte die obersten Knöpfe ihres Nachthemds aufgerissen und war auf die Veranda gestolpert, um durchzuatmen – das Gesicht zum Meer gewandt, ihrem Fluchtweg.
    Betty zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug, wobei sie beobachtete, wie der winzige rote Glühpunkt ihr Spiegelbild im Fenster aufleuchten ließ. Komisch, dass diese neue Mieterin, Susannah, herkam, weil sie das wollte . Betty hatte ebenfalls hier sein wollen, und zwar etwa sechs Monate lang, bis sie erkannte, dass das Leben auf einer entlegenen Insel nicht das Geringste an Bill Pavalak änderte und dass sie sich lediglich eine Art von Lebensstil aufgehalst hatte, die sich kein Mensch gegen Bezahlung antun würde – aufstehen bei Tagesanbruch, Hühner und Ziegen füttern, Holz für den hungrigen Ofen hacken, kochen und waschen und den ganzen Tag irgendwelche Arbeiten verrichten, und all das, ohne auch nur eine anständige Glühbirne brennen zu haben, die es ihr zumindest ein wenig erleichtert hätte. Aber nach sechs Monaten war sie schwanger geworden, und das Einzige, was sie sich noch mehr wünschte, als nach Hause zu ihrer Familie in Seattle zurückzukehren, war ein Baby. Daher war sie nach ihrer Flucht von der Insel wieder zurückgekommen und dann geblieben.
    Inzwischen mochte sie die Nächte und empfand die Dunkelheit als sanft und tröstlich. Wenn sie aufs Festland fuhr, um sich mit ihren Schwestern in Seattle zu treffen oder den Arzt in Bellingham aufzusuchen, erschien ihr der überall herrschende Lichterschein hart und aufdringlich, eine visuelle Kakophonie. Sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher