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Das letzte Buch

Das letzte Buch

Titel: Das letzte Buch
Autoren: Zoran Zivkovic
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Raums.
    Herein stapfte Hauptkommissar Milenković. Ehe der Doktor die Tür hinter ihm schloss, bemerkte ich im Korridor zwei Männer
     in Mänteln.
    »Wo ist es?«, fragte der Hauptkommissar ohne Umschweife.
    »Dort. Rasch, Doktor, öffnen Sie!«
    Er hatte das Kärtchen bereits in den Schlitz gesteckt, zog es aber nicht durch. Einige Augenblicke blieb er wie angewurzelt
     an dem Fensterchen stehen, zog dann das Kärtchen wieder heraus und rückte ein wenig von der Tür ab.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Das wage ich nicht …«
    Der Hauptkommissar ging zu der Kammer und schaute hinein.
    »Was ist passiert?«, fragte er und drehte sich um.
    »Sie ist hineingegangen, um das Buch zu untersuchen«, antwortete der Doktor mit einer Stimme, die Unsicherheit verriet. »Etwas
     ist geschehen. Ich verstehe es nicht. Sie war perfekt geschützt.«
    »Um Himmels willen, öffnen Sie!«, rief ich. »Wir können sie doch nicht so lassen!«
    |200| Der Arzt schüttelte wieder den Kopf.
    »Ich wage es nicht. Wir könnten alle umkommen! Das ist … gefährlich!«
    »Niemand wird umkommen«, rief ich wieder. »Das Buch ist ungefährlich, solange es nicht aufgeschlagen wird. Sie haben es hierher
     gebracht, und Ihnen ist nichts passiert.«
    Der Doktor zog sich noch etwas weiter von der Kammer zurück. Ich sah Hauptkommissar Milenković an. Wir standen reglos da,
     in der Stille, nicht mehr als zwei, drei Sekunden, obgleich es mir viel länger vorkam.
    »Geben Sie mir die Karte«, sagte der Hauptkommissar in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, und streckte die Hand aus.
    Einen Moment stand er da, das Kärtchen in der Hand, als wüsste er nicht, ob er es selbst benutzen oder mir geben sollte. Dann
     drehte er sich um und zog es durch den Schlitz. Wie im Korridor leuchteten auch hier vier grüne Lämpchen auf. Hier war keine
     Anstrengung nötig, die Tür zu öffnen. Sie ging von selbst auf. Der Hauptkommissar machte einen Schritt zur Seite, sodass ich
     ihm nicht im Wege stand.
    Der Raum war viel zu klein, als dass wir beide hätten hineingehen können. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich ihm zuvorgekommen,
     doch er stand näher. Nur kurz hielt er an der Tür inne, dann ging er hinein. Ich trat heran, um besser zu sehen und um ihm
     zu helfen, Fräulein Doktor Vidić hinauszutragen.
    Zuerst legte er ihr die drei mittleren Finger auf die Halsschlagader. Das dauerte einige Zeit, denn er berührte sie durch
     den dünnen Plastikanzug. Schließlich drehte er sich kopfschüttelnd zu uns um.
    Zu mir drang ein schluchzender Seufzer von Doktor Dimitrijević. Sein zynischer Humor half ihm, die täglichen Begegnungen mit
     dem Tod zu ertragen. Doch nun reichte er als Schutz nicht aus.
    |201| Der Hauptkommissar stand hinter dem Stuhl, ergriff die Ärztin unter den Achseln und versuchte, sie gerade aufzusetzen. Der
     gelbe Helm hing schlapp nach vorne. Ich dachte, er würde sie weiter aufrichten, doch er zog seine Hände heraus und betrachtete
     den Tisch. Dann wandte er sich an den Doktor und an mich und stellte die gleiche Frage wie eingangs.
    »Wo ist es?«
    Ich verstand nicht sofort, was er meinte.
    »Das Buch«, fügte er ungeduldig hinzu, als er mein verständnisloses Gesicht sah.
    Ich neigte mich ein wenig nach rechts, um den Tisch besser zu sehen, der mir bisher teilweise verdeckt war. Es lag nichts
     dort. Ich zuckte die Schultern.
    Zuerst schaute der Hauptkommissar in den Schoß der Ärztin, dann ging er in die Hocke und suchte unter dem Tisch. Er richtete
     sich wieder auf und blieb eine Weile stehen. Noch während er herauskam, suchten seine Augen erneut sorgfältig den kleinen
     Raum der Kammer ab, dann schloss er die Tür.
    »Sind Sie sicher, dass es da war?«
    Die Frage war an uns beide gerichtet. Doktor Dimitrijević antwortete als Erster.
    »Ohne Zweifel! Ich habe es selbst hineingetragen.«
    Der Hauptkommissar wandte sich an mich.
    »Ich habe gesehen, wie sie es aufgeschlagen hat«, sagte ich. »Ich habe versucht, es zu verhindern, aber sie hat nicht auf
     mich gehört. Sie ist über dem Buch auf den Tisch gesunken.«
    Der Hauptkommissar schwieg eine Weile und schaute mich durchdringend an.
    »Warum?«, fragte er schließlich.
    »Was heißt warum?«
    »Warum haben Sie versucht zu verhindern, dass sie es aufschlägt?«
    |202| »Weil alle, die es aufgeschlagen haben, umgekommen sind.«
    »Aber das ist doch unsinnig«, mischte sich der Doktor ein. »Geschlossen oder geöffnet, das Buch hätte Sonja überhaupt nicht
     schaden
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