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Wendland & Adrian 02 - Die Krypta

Wendland & Adrian 02 - Die Krypta

Titel: Wendland & Adrian 02 - Die Krypta
Autoren: Thomas Görden
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Eins
     
    S elbst in einer so großen Stadt wie Köln gibt es nachts irgendwann zwischen ein und vier Uhr eine Zeit, in der es still ist. In dieser Zeit wirkt das Schweigen, das der Dom ausstrahlt, besonders gewaltig. Wie ein unsichtbarer Nebel schwebt es über der weiten, leeren Fläche der Domplatte. Hannes und Karla waren auf müden, kalten, schlecht durchbluteten Füßen durch die Hohe Straße und über den Wallraffplatz geschlurft. Jetzt standen sie am Rand der Domplatte, wo sich tagsüber die Touristen tummelten und Straßenmaler süßliche Madonnenbilder auf die rauen Pflastersteine zeichneten. Hannes legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf zu den beiden gotischen Türmen, die über ihm im Nachthimmel verschwanden.
    Er hustete rasselnd und schmerzhaft, dann sagte er: »Wenn ich nicht wüsste, dass Menschen wie unsereins damals Stein auf Stein gesetzt haben, könnte man denken, der Dom ist natürlich gewachsen, so wie die Alpen oder der Ayers Rock in Australien.«
    In dieser Nacht war es wirklich sehr still, so dass Hannes ein wenig über seine eigene Stimme erschrak. Immer hatte er das Bedürfnis etwas Bedeutungsvolles zu sagen, wenn er mit Karla hier stand. Wenn er mit den Brüdern am Bahnhof oder am Rhein trank, zogen sie ihn damit auf, dass er ein richtiger Dom-Fan geworden sei. Ja, sagte er dann achselzuckend, aber nur wegen Karla. Früher hatten solche blöden Bemerkungen ihn leicht aus der Haut fahren lassen, und wenn er zugeschlagen hatte, waren Nasenbeine und Gebisse zu Bruch gegangen. Aber heute konnte er sich keine Wutausbrüche mehr leisten. Wer mit über fünfzig immer noch auf der Straße lebte, musste mit seinen Kräften haushalten.
    »Du warst doch nie in Australien«, sagte Karla, die auch dann lallend und mühsam sprach, wenn sie, wie jetzt, schon etliche Stunden nichts mehr getrunken hatte.
    Natürlich war Hannes damals mit dem uralten Frachtkahn, auf dem er angeheuert hatte, in Australien gewesen, wenn auch nicht am Ayers Rock, nur in Sydney, doch Karla glaubte es ihm sowieso nicht. Sie hatte ihn bei der Hand genommen, immer legte sie ihre kleine, kalte Hand in seine, wenn sie vor dem Dom standen. Wenigstens waren seine Hände noch warm, im Gegensatz zu seinen Füßen, die in letzter Zeit immer kalt waren. Ein schlechtes Zeichen. Vermutlich sterbe ich nicht auf einen Schlag, sondern Stück für Stück, dachte er. Von unten nach oben.
    »Ich kann sie wieder sehen«, sagte Karla und ging langsam auf das Hauptportal des Doms mit den vielen schattenhaften Figuren und Verzierungen zu. »Ich mache die Augen fast zu, so dass kaum noch Licht durchkommt. Dann kann ich sie sehen.«
    Natürlich. Hannes trottete neben ihr her. Karla wurde immer verrückter im Kopf. Ihr nächtliches Rendezvous mit dem Dom war längst zu einer fixen Idee geworden, einer Marotte. Jede Nacht ging das jetzt so, selbst wenn sie ein halbwegs warmes Plätzchen und eine Flasche hatten. Irgendwann nach Mitternacht wurde Karla unruhig: Hannes, komm, Hannes. Lass uns zum Dom gehen, bitte. Wenn er Nein sagte, fing sie an zu weinen und brabbelte schluchzend vor sich hin.
    Karla blieb stehen und zeigte auf die Steingestalten über dem Portal, die allen Dombesuchern ernst entgegenblickten.
    »Nachts werden sie immer lebendig«, lallte Karla. »Siehst du nicht, wie sich ihre Gesichter bewegen? Die Heiligen und die Engel haben Angst vor den Dämonen. Und die Dämonen wollen die Heiligen und die Engel vertreiben, weil sie schon viel länger hier sind und glauben, dass ihnen dieser Platz allein gehört. Die Kirche kann nichts machen gegen die Dämonen, sie sind viel älter und mächtiger. Aber die Dämonen können auch die Engel nicht vertreiben. Sie kommen einfach nicht voneinander los.«
    Anfangs hatte Hannes sich noch die Mühe gemacht, Karla daran zu erinnern, dass ihre Engel und Dämonen bloß, in kalten Stein gemeißelte Phantasiegeschöpfe waren, aber das hatte er längst aufgegeben. Sie konnte endlos so weiterreden, von herumgeisternden toten Erzbischöfen, Engeln, Dämonen und Feen - aber immer nur, wenn er mit ihr nachts hier vor dem Dom stand. Sonst stierte sie oft den ganzen Tag stumm vor sich hin. Der Alkohol ist der wirkliche Dämon, dachte Hannes, der schlimmste aller Teufel. Er ist schuld an unserem Elend. Karla hat er den Verstand kaputtgemacht und mir die Leber.
    Hannes war wirklich in einer schlimmen Verfassung. Er fühlte sich scheußlich, wenn er trank. Und er fühlte sich scheußlich, wenn er nicht trank.
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