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Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Titel: Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
Autoren: Marie-Sabine Roger
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waren wir einige, wenn man es richtig bedenkt, die ihn dazu getrieben haben, an dem Abend vom Dach zu springen. Sein Vater in vorderster Front, und wir anderen als Verstärkung. Wir alle zusammen, die echten, starken Männer.
     
    Wenn man einmal so alt ist wie ich, ist es einem egal, wie die Leute leben wollen, außer man hat vom Leben nichts kapiert. Es gibt Heteros, es gibt Homos. Es gibt Mehrfachbegabte. Und die Unentschlossenen. Man entscheidet genauso wenig, wer einen anmacht, wie ob man als Linkshänder, mit Locken oder mit grünen Augen geboren wird.
    Es ist weder ein Verdienst noch eine Schande.
    Aber bei dem jungen Camille geht es nicht um Homosexualität. Er prostituiert sich, das ist etwas ganz anderes. Und dabei ist er noch ein Junge, mit empfindsamen Augen und Wangen wie ein Baby.
    Er sollte das Leben genießen, mit seinem Freund herumknutschen, sich mit ihm verpartnern, bei Ikea shoppen gehen, um die erste gemeinsame Wohnung einzurichten, statt unter Brückenbögen auf den Strich zu gehen und herumzulaufen wie ein Einser-Schüler, den man für das Schulfest als Barbie-die-Nutte verkleidet hat.
     
    Camille berichtet in allen Einzelheiten von meiner Rettung. Ich spüre, wie stolz er auf sich ist. Dazu hat er allen Grund, finde ich. Und ich komme nicht umhin zu denken, wenn er an diesem Abend nicht anschaffen gegangen wäre, dann würde ich jetzt wie ein Stück Dreck in den Wassern der Seine treiben.
    Am Ende seiner Geschichte ist alles gut: Der Retter rettet mich, der Krankenwagen fährt mich ins Krankenhaus, und der Held (das bin ich) ist noch einmal davongekommen. Ich lächle, er auch.
    Als wir uns schließlich außer »danke/keine Ursache« nichts mehr zu sagen haben, steht er auf, streicht sich eine Haarsträhne zurecht, fummelt an den Freundschaftsbändern an seinem Handgelenk herum.
    Er murmelt: »Also, dann will ich mal wieder. Ich bin jedenfalls froh zu sehen, dass es Ihnen einigermaßen gut geht.«
    Wir schütteln uns die Hand. Er geht auf die Tür zu.
    Und da frage ich ihn plötzlich mit dem mir eigenen Feingefühl: »Stimmt es, dass du auf den Strich gehst?«
    Er dreht sich um. Ich kann in seinen Augen sehen, dass ich gerade etwas verdorben habe. Der alte Moses, den er aus dem Wasser gerettet hat, ist nur ein perverser Lüstling, ein Freier.
    Camille kommt mit leerem Blick an mein Bett zurück. Ich sage mir, gleich wird er mir die Preise nennen. Angesichts meines Zustands und des Ortes, an dem wir uns befinden, wird die Auswahl zwangsläufig begrenzt sein: manuell, kurz und schmerzlos. Ich klammere mich an mein Laken wie eine Jungfrau in der Hochzeitsnacht.
    Aber nein, er mustert mich nur schweigend.
    Ich frage ihn: »Wie alt bist du?«
    »Zweiundzwanzig, warum?«
    Die Stimme klingt angespannt, misstrauisch.
    Mir wird plötzlich bewusst, dass ich zu allem Übel und ohne jeden Grund dazu übergegangen bin, ihn zu duzen, was entweder nach Bevormundung oder nach Polizeiverhör klingt, je nach Alter und Vorgeschichte.
    »Hör zu, es ist mir egal, an wen du deinen Körper verkaufst. Aber
warum
tust du das?«
    Er beißt sich auf die Lippen.
    »Du siehst nicht dumm aus, im Gegenteil.«
    »Und weiter?«
    »Na ja, für jeden dahergelaufenen Mistkerl den Hintern hinzuhalten klingt für mich nicht nach einem Beruf mit Zukunft …«
    Ich spüre, dass er immer missmutiger wird. Was durchaus verständlich ist.
    Ich brummele: »Okay, entschuldige, ich bin nicht immer sehr feinfühlig, wie du feststellen kannst.«
    »…«
    »Und ich bin dir
sehr
dankbar, klar?«
    Ich rede immer lauter. Wenn ich so weitermache, bin ich in zwei Minuten so weit, dass ich ihn anbrülle. Ich atme tief durch.
    »Ich verdanke dir mein Leben, das will schon was heißen! Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich jetzt tot. Ich würde die Freuden des Krankenhausessens nicht kennen. Und das wäre doch schade!«
    Ich reite mich immer weiter rein, es ist zum Haareraufen.
    »Aber … Ach, verflucht, wenn ich einen Jungen hätte, würde es mich umbringen, wenn er täte, was du tust! Verstehst du?«
    Er rührt sich nicht. Er sagt nichts.
    Und ich frage mich meinerseits, worauf ich mit meiner bekloppten Predigt, als wäre ich ein alter Moralapostel, der gerade entdeckt hat, dass Prostitution keine tugendhafte Arbeit ist, eigentlich hinauswill.
    Das scheint ihn auch zu interessieren, denn er fragt mich schließlich mit dünner, ernüchterter Stimme: »Warum sagen Sie mir das alles? Was wollen Sie von mir?«
    »Nichts, schon gut, ich weiß
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