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Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Titel: Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
Autoren: Marie-Sabine Roger
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ist hocherfreut – ich bin auch erfreut.
    Er ist mit mir zufrieden, oder mit anderen Worten: mit seinen Ergebnissen.
    Ich werde in zwei-drei Wochen wieder anfangen können zu laufen, mit Krücken und zunehmender Belastung des linken Beins. Wenn keine Komplikationen dazwischenkommen.
    Aber dazu besteht kein Grund.
    Obwohl …
    Ich muss vorläufig flach auf dem Rücken liegen bleiben.
    Die Schwester wird mich in vier bis fünf Tagen um
dreißig Grad aufrichten
. Ich hätte beinahe geantwortet, in meinem Alter hätte ich darauf gar nicht mehr zu hoffen gewagt. Aber ich habe es gelassen. Es gibt keinen Grund, wegen meines zweifelhaften Humors Repressalien zu riskieren.
    Obwohl …
    Schließlich hat er gefragt, als hätte er es eilig, mit mir fertig zu werden: »Noch Fragen, Herr Fabre?«
    »Nein … Nein, danke, im Moment fällt mir n…«
    »Dann ist ja alles bestens!«
    Bestens.
    Genau.
    Bestens
.
    Das ist genau das Wort, das ich suchte.

I ch habe vor, die Sache mit dem Schreiben durchzuziehen. Und ich hätte auch gern, dass mir die Dinge in der richtigen Reihenfolge wieder einfallen. Aber das Gedächtnis ist wie eine Wetterfahne, es reagiert auf jeden Luftzug.
    Vorhin in den Nachrichten stand eine müde Arbeiterin vor den Toren einer bestreikten Fabrik und beantwortete die Fragen einer Journalistin. Sie war um die fünfzig, zart, aber bald verwelkt, hatte ein abgespanntes Gesicht, helle Augen, einen würdigen Blick und diesen kleinen bitteren Zug um den Mund, den das Leben einem mit seinen Tiefschlägen aufprägt.
    Sie sah dem Bild ähnlich, das mir von Annie geblieben ist.
    Seitdem denke ich an sie.
     
    Annie habe ich mit sechsundzwanzig kennengelernt. Sie war lustig, verliebt, fünf Jahre jünger als ich. Ich fand sie hübsch, ich gefiel ihr, lauter gute Gründe, sie für mich behalten zu wollen. Nach sechs Monaten haben wir geheiratet, dann sind wir einunddreißig Jahre zusammengeblieben, bis zu ihrem Unfall. Ein Fahrradunfall – ausgerutscht auf nassem Pflaster auf dem Weg zur Post. Das nennt man einen dämlichen Tod.
    Aber ich kenne keine intelligenten Tode.
    Sie war zweiundfünfzig und ich siebenundfünfzig. Wir hatten versucht, Nachwuchs zu produzieren, sie und ich, aber da war nichts zu machen. Oder vielmehr, nichts zu machen, um die Sache zu einem guten Ende zu bringen. Nach der dritten Fehlgeburt gab Annie sich geschlagen. Der Unterschied zwischen uns: Ich habe nie ein Kind bekommen, aber sie hat dreimal eins im Bauch getragen.
    Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich ein Mann oder ein Dummkopf bin oder beides gleichzeitig, aber ich habe Föten nie als vollwertige Kinder betrachten können. Ich fing kaum an abzusehen, was für Veränderungen das in mein Leben bringen würde, da war alles schon wieder zu Ende.
    In meinem Bauch hatte sich nichts bewegt. In ihrem hatte es leise gezappelt.
    Annie verlor ihre Babys um den vierten Monat herum. Ich war traurig, natürlich, aber nicht erschüttert. Ich frage mich sogar, ob ich mich beim ersten Mal nicht fünf Minuten lang irgendwie erleichtert gefühlt habe. Wir mit einem Kind – das machte mir große Angst. Ich fürchtete um meine Freiheit, darum, nicht mehr alles tun zu können, was ich wollte. Ich war ein egoistischer, unreifer Trottel.
    Solchen kleinen Abscheulichkeiten kann man ins Gesicht sehen, wenn man auf die siebzig zugeht. Da hat man nicht mehr viel vor sich selbst zu verbergen. Man hat gelernt, nicht so hart über sich zu urteilen.
    Dabei erinnere ich mich, wie entsetzt ich ein paar Jahre später nachträglich war, dass ich so etwas hatte denken können.
    Bei der ersten Fehlgeburt sagte ich zum Trost zu ihr: »Beim nächsten Mal klappt es bestimmt.«
    Bei der zweiten wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich hörte sie mehrere Abende lang im Bad weinen und traute mich vor lauter Angst, nicht die passenden Worte zu finden, nicht zu ihr hinein.
    Ich hätte es besser trotzdem getan, auch auf die Gefahr hin, Blödsinn zu reden. Eine Dummheit, die von Herzen kommt, ist leichter zu verzeihen als ein bequemes Schweigen. Sie ist auch schneller vergessen.
    Annie pilgerte zu allen erdenklichen Spezialisten, mit Messingschildern an Prachtstraßen, barschen Sekretärinnen mit unerbittlichen Terminkalendern, gerahmten Lithographien und Zimmerpflanzen, natürlich auf Privatrechnung. Sie war bei Hellseherinnen, Gurus und Magnetiseuren; sie ließ sich bunte Steine auf den Bauch legen; man öffnete ihr alle Chakren und setzte ihr Nadeln entlang der
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