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Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Titel: Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Taufen sein Taschentuch nass heulte, der meine Mutter »Mein Schnuckelchen« nannte, ohne sich darum zu scheren, ob er sich lächerlich machte, und nie Angst hatte, ihr zu sagen: Ich liebe dich.
    Ein Mann, wie ich sicher gern einer geworden wäre.
     
    Schon als ganz kleiner Stöpsel spürte ich die Macht, die er über die Leute hatte, wenn die in diesem ganz speziellen Ton zu mir sagten: »Ja, dein Vater! Dein Vater! … Das ist schon jemand!«
    Er war so sehr
jemand
, dass ich mich ihm gegenüber fühlte wie niemand.
    Letztlich hätte ich lieber einen gewöhnlicheren Vater gehabt. Dann wäre ich bestimmt schneller flügge geworden.
    Und das Schlimmste dabei: Ich war der
Älteste
, der Vorreiter, von dem alles abhing. Mein Bruder zog sich alleine groß, ohne dass sich jemand an ihm störte, der Glückspilz. Er war der Zweitgeborene, das Nesthäkchen. Ewig Zweiter, wie der gerade deshalb so beliebte Radrennfahrer Poulidor.
    Ich war derjenige, auf dem alle Hoffnungen ruhten.
    Ich erinnere mich noch an den Blick der Nachbarn, der Cousins und aller anderen. An diesen Blick, der traurig von meinem Vater-dem-Helden zu der dickschädeligen, nichtsnutzigen kleinen Rotznase glitt. Ihre ungläubige, betrübte Miene, die schweigend sagte: »Wie kann das nur sein? Ein Kerl wie er, und so ein Bengel!«
     
    Ich kapierte sehr früh, dass das Vorbild unerreichbar bleiben würde und ich andere Wege gehen musste, um zu bestehen. Also strengte ich mich an, so nervig wie möglich zu sein und den größtmöglichen Mist zu bauen. Unglücklicherweise hatte ich keine wahre verbrecherische Ader: Hinter meinen Gangster-Allüren verbarg sich ein netter Kerl.
    Ich wäre gern ein Mafioso gewesen, ein echter Böser, ein Halunke. Aber ich war nur ein Möchtegern-Ganove. Eine kleine Knalltüte ohne jedes Format.
    Und zu allem Überfluss pflegte mein Vater mir seine Pranke auf die Schulter zu legen und zu sagen: »Er ist ein sturer Esel, aber ein braver Junge. Ich bin mir sicher, er wird es doch noch weit bringen …«
    Das war wahrscheinlich seine Art, mir sein Vertrauen zu zeigen.
    Aber dieses »doch noch« klang in meinen Ohren wie das schlimmste
trotz allem
.

S eitdem ist eine Menge Wasser unter den Brücken durchgeflossen. Und kürzlich wäre ich beinahe mit davongeflossen: Vor ein paar Tagen wurde ich in letzter Minute mitten aus der Seine gefischt.
    Genauer gesagt war ich zwei Meter vom Ufer entfernt im Fluss gelandet, was völlig ausreichend ist, um im Schlamm zu versinken und erst Wochen später wieder aufzutauchen, aufgeweicht und schwammig wie die Brotstücke, die man den Enten zuwirft.
    Ich wurde wieder zum Atmen gebracht, hier und da eingipst. Ich musste wohl am Brückenpfeiler abgeprallt sein. Misslungener Selbstmord, feuchtfröhlicher Abend, Überfall? Darüber konnte man nur Mutmaßungen anstellen.
    Ich lag im Koma und hatte daher keine Meinung dazu.
     
    Ich wachte auf der Intensivstation wieder auf, mit einem Polytrauma – das macht doch was her, oder? – und bewacht von einem besorgt wirkenden Polizisten. Ein Kerlchen von der Sorte, die mein Vater selbst in seinen größten Wutanfällen über die Gesellschaftsordnung hätte verschonen können. Er war noch sehr jung, mit einem gutmütigen Gesicht, großen, traurigen Antilopenaugen und einem Dreitagebart, der wahrscheinlich mehrere Monate alt war.
    Er wirkte ganz eingeschüchtert. Von meinem Charisma natürlich. Aber vielleicht lag es auch ein bisschen an den Schläuchen, der Gasmaske und dem ganzen Hokuspokus, mit dem sie mich überwachten.
    Der Polyp war jugendliche fünfunddreißig, trug eine schwarze Lederjacke und hatte ein altes Notizbuch mit einem Chewbacca-Aufdruck in der Hand. Er hätte mein Sohn sein können, wenn ich mich fortgepflanzt hätte.
    Als ich die Augen öffnete, tat ich das wie ein Ertrinkender, der plötzlich wieder auftaucht und nach Luft schnappt. Aber ertrunken war ich ja auch, oder so gut wie, also passte das ganz gut.
    Ich fragte mich, wo ich war und warum, mit einer wohl narkosebedingten dunklen Angst und dem unangenehmen Gefühl, nicht mehr genau zu wissen, wo mein Körper anfing und aufhörte. Ein Teil meines Geistes galoppierte panisch kreuz und quer herum, um sich ein Bild der Lage zu machen: Wo bin ich, verdammt? Bin ich noch ganz? Kann ich mich bewegen?
    Der andere Teil konnte sich nicht vom Gesicht dieses unbekannten Typen losreißen, der sich zu dicht über mich beugte und so leise auf mich einredete, dass ich fast nichts hörte. Seine
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