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Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Titel: Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
Autoren: Marie-Sabine Roger
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bereite mich gerade psychisch darauf vor, meine Mahlzeit in Angriff zu nehmen, als es klopft. Das passiert so selten, dass ich sofort interessiert aufblicke.
    In der Zimmertür steht eine hübsche Person in einem enganliegenden Pulli, mit halblangem Haar, einer zierlichen Figur und schwingenden Hüften. Sie fragt mich mit melodischer Stimme, ob sie eintreten darf, worauf ich mit einem wohlkalkulierten, gehauchten »Jaaa« antworte. Erst als sie ganz nah an meinem Bett steht, wird mir mein Irrtum klar. Das Gegenlicht, meine Kurzsichtigkeit … Die Nymphe ist ein Jüngling.
    Das Leuchten in meinen Augen erlischt.
    Er klappert mit den Wimpern, dass es nur so zieht, und fragt mich gurrend: »Sie sind doch der Herr, der in die Seine gefallen ist?«
    Ich antworte mit kühler Stimme, steif und voller Vorbehalte: »Höchstpersönlich. Mit wem habe ich die Ehre?«
    »Ich heiße Camille. Ich habe Sie herausgefischt, ich weiß nicht, ob man Ihnen davon erzählt hat …«
    Aha, das ist er also, mein hübscher Retter! Ich lächle breit.
    Höflich, etwas schüchtern spricht er weiter: »Ich wollte mich nach Ihnen erkundigen. Aber ich sehe, dass ich störe, Sie wollten gerade zu Mittag essen …«
    Auf meinem rechteckigen Tablett ist der reinste Gaumenschmaus angerichtet: schlaffe Rote Beete, graues Hacksteak, schwammiger Blumenkohl, Eierpudding ohne Seele und ohne Eier.
    »Das Festmahl kann ruhig warten …«, sage ich.
    Ich biete ihm einen Stuhl an, und er setzt sich unbehaglich auf eine halbe Pobacke.
    »Dann verdanke ich Ihnen also mein Leben, ja?«
    Er haucht: »Aber nein, aber nein.« Und ich flüstere zurück: »Aber doch, aber doch.«
    Er entspannt sich etwas. Ich fahre fort: »Um die Wahrheit zu sagen, ich kann mich an nichts erinnern, ich habe ein totales Blackout. Wollen Sie mir nicht erzählen, was da passiert ist?«
    Darauf hat er nur gewartet.
    Er berichtet mir, er habe plötzlich auf der Brücke Bremsen quietschen hören und gleich darauf gesehen, wie ich ins Wasser stürzte wie ein Klotz. Zum Glück lag ein Bootshaken auf dem Kai herum, und damit konnte er mich dann an meinem Parka angeln und ans Ufer ziehen.
    »Sie haben mir vielleicht einen Schrecken eingejagt! Sie waren dermaßen blass, Ihre Augen waren völlig verdreht, ich hab echt gedacht, Sie wären tot.«
    Er wirkt noch immer ganz aufgewühlt. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich knapp unter der Wasseroberfläche dahintreibe wie eine dicke Qualle, die Augen verhangen und das Gesicht weiß wie ein Pierrot.
    Ach, da fällt mir auf einmal ein, in meiner Familie nannte man mich Pierrot. Oft auch »Pierrot Gourmand«, nach der bekannten Lolli-Marke, wegen meines Appetits. Ich musste mit einem Lolli-Namen herumlaufen, bis ich zu Hause auszog. Die Erwachsenen sind im Umgang mit Kindern manchmal unglaublich feinfühlig.
    Der kleine Camille betrachtet mich mit aufmerksamem, mütterlichem Blick. Er scheint mich sympathisch zu finden. Es ist ja oft so, dass man die Leute schätzt, denen man einen Dienst erwiesen hat.
    Er wirkt nett, wacher Blick, feminine Gesten, anmutig, ein rundes Gesicht, himmelblaue Augen. Grübchen. Sehr weiße, etwas unregelmäßige Zähne. Wie alt der Junge wohl sein mag? Vielleicht nicht mal volljährig.
     
    In meiner Jugend gab es bei uns in der Nachbarschaft einen wie ihn. Ein blonder Jüngling mit rundem Hintern, den seine Eltern Jean-Marc getauft hatten – kein einfacher Vorname, wenn man sich gern die Röcke seiner Mutter ausleiht und mit Sopranstimme Chansons singt.
    Er bekam alle Schimpfwörter ab, die man sich nur denken kann. Schwuchtel, Tunte, warmer Bruder waren noch die schmeichelhaftesten und vornehmsten darunter.
    Sein Vater war Fernfahrer und verprügelte ihn jeden Sonntag, um ihn von seinen Neigungen zu heilen. Seine Mutter tröstete ihn und nannte ihn »Mein Baby«. Alle Idioten in meinem Alter hänselten ihn.
    Sein Leben war ein einziger Spießrutenlauf.
    Am Ende eines zu langen Wochenendes stürzte er sich vom Dach seines Hauses. Wahrscheinlich entmutigt von der Dummheit der Menschen. Aber sein großer Sprung ging schief, und er wachte querschnittsgelähmt im Krankenhaus auf.
    Da war er knapp fünfzehn.
    Als ich erfuhr, was ihm passiert war, fühlte ich mich beschissen, auch wenn ich persönlich nichts dafür konnte – jedenfalls nicht mehr als alle anderen. Ich hatte nie ein Wort mit ihm gewechselt. Aber auch Seitenblicke, Gelächter, Augenzwinkern können jemanden in den Abgrund stoßen, glaube ich. Insofern
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