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Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Titel: Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Meridiane; sie ließ sich Blut abnehmen und Röntgen- und Ultraschallbilder machen; sie sang Mantras; sie schluckte Tabletten, Kapseln und Versprechungen, die, wie jeder weiß, nur für diejenigen gelten, die an sie glauben.
    Sieben oder acht Jahre lang gab sie ein Vermögen aus, ein Vermögen an Zeit, Geld, sinnlosen Mühen und geplatzten Träumen. Tausend Mal wurde ihr gesagt, man müsse hoffen und man lebe von der Hoffnung.
     
    Von der Hoffnung leben vor allem die, die daraus Profit schlagen.

I ch hatte großes Glück: Ich habe meinen Beruf geliebt.
    Oder vielmehr
meine Berufe
, denn ich habe verschiedene Tätigkeiten ausgeübt.
    Der sechsjährige Bengel, der unbedingt ein Schafott besteigen wollte, hat schließlich mehr als fünfunddreißig Jahre in Handelshäfen verbracht. Was habe ich für Schiffe gesehen, Autotransporter, Containerschiffe, Tanker, Massengutfrachter aller Art, beladen mit Getreide, Kohle, Zement oder Erzen! Jeder neue Job war ein Abenteuer, jede Rückkehr nach Frankreich eine verdiente Ruhepause, eine willkommene Rast, aber zu lange sollte sie auch wieder nicht dauern.
    Ich kann nichts dafür, ich bin veranlagt wie ein Ackergaul – ich muss den Pflug ziehen und mich ein bisschen abplagen, um zu spüren, dass ich lebe. Ich brauche Luft und Raum. Und Beschäftigung.
    Zu Hause scharrte ich nach drei Wochen jedes Mal wieder mit den Hufen, stand sprungbereit am Fenster oder an der Gartenmauer, mit fiebrigem Blick und der Nase im Wind.
    »Ich seh’s dir genau an, du langweilst dich«, sagte Annie dann.
    Und gleich darauf: »Wann gehst du wieder an Bord?«

M orgens bin ich nie besonders gut drauf. Ich schlafe hier schlecht. Es ist so furchtbar unbequem.
    Dazu macht es mich trübselig zu denken, dass ich noch mindestens einen Monat hier bleiben muss, selbst
wenn es keine Komplikationen gibt. Aber dazu besteht kein Grund. Obwohl …
    Man muntert mich mit freundlicher Stimme auf, als wäre ich ein Kleinkind: Kopf hoch, etwas Geduld … Eigentlich haben wir es doch ganz gut hier, oder?
    Oh nein. Nein, nein. »Wir« haben es hier überhaupt nicht gut, wenn Sie es genau wissen wollen.
    Tagsüber langweile ich mich zu Tode. Und wenn der Abend kommt, ist es noch schlimmer. Lärm auf dem Flur, Pfleger, die mit den Schwestern herumalbern, Klingeln und Fernseher als Hintergrundgeräusch. Dann senkt sich eine drückende Stille über alles, durchbrochen von rasselndem Husten und unterdrücktem Stöhnen.
    Der Gips stört mich beim Schlafen. Mir ist heiß, die Laken kleben mir an der Haut.
    Die Schmerzen flackern wieder auf, bei mir wie bei den anderen. Sie quälen mich etwas und ziehen dann weiter in die Nachbarzimmer, wie gierige kleine Vampire, die durch die Nacht flattern.
    In Sachen Schmerzen ist das Angebot breit gefächert, im Krankenhaus gibt es davon eine reiche Auswahl.
    Es gibt Schmerzen, die nagen, und andere, die reißen. Solche, die erdrücken, die zermalmen. Dann gibt es den stechenden Schmerz, der einen nicht wieder loslässt. Und den schleichenden, der leise einsetzt und langsam anschwillt, sein ganzes Arsenal klammheimlich einrichtet, bevor er mit Pauken und Trompeten losbricht. Den, der bis ins Mark pulsiert. Den, vor dem man sich krümmt. Schmerzen, die mit Instrumenten daherkommen wie die Inquisition, hier die Axt und da die Säge,
nimm du das Messer, ich schnapp mir die Zange
.
    Es gibt die fiesen Schmerzen, die einen mitten in der Nacht wecken und nicht lockerlassen, bis die Sonne aufgeht. Die in den Eingeweiden und die in den Knochen. Dann noch den vertrauten, der sich seit langem häuslich niedergelassen hat, der zum Inventar gehört, für den der Tisch gedeckt und das Bett gemacht ist. Den, der immer in Begleitung auftaucht, mit Übelkeit im Schlepptau oder mit Atemnot, Beklemmungen, Schwindel oder Schüttelfrost.
    Es gibt die, die mit einem lauten Tusch im ganzen Körper losbrechen und einem den Magen und die Eingeweide auswringen. Die großen, schweren Schmerzen, die ihre Eisenkugel aus dem vierten Stock fallen lassen. Die gewaltsamen, die einen schier entzweibrechen. Die kleinen gemeinen, die unschuldig tun und einen wahnsinnig machen. Die einen reizen und zur Weißglut bringen wie eine surrende Schmeißfliege.
     
    Über ein gewisses Maß, eine gewisse Dauer hinaus ist man nichts anderes mehr als dieser leidende Körper.
    Keine Gedanken mehr, keine Geduld, keine Lust mehr auf Späße.
    Wenn man wirklich Schmerzen hat, gibt es keine Zuflucht mehr.
    Man ist enteignet.

I ch
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